ÖGK-Arbeitnehmerobmann Andreas Huss hat sich in den vergangenen Monaten nicht sehr viele Freund:innen in der Ärzteschaft gemacht. Seine Kritik an der hohen Zahl an Wahlärzt:innen stößt vielen auf. Auch die Debatte über Primärversorgungseinheiten und die von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) geplante Einschränkung der Mitsprache der Ärztekammer sorgen nicht für Jubelstimmung. Wie berichtet, soll, wenn sich bei einem Engpass künftig sechs Monate lang keine neuen Ärzt:innen finden, eine Primärversorgungseinheit ausgeschrieben werden. Gleichzeitig versucht die ÖGK viel, um den Kassenvertrag attraktiver zu machen: unterschiedliche Zusammenarbeitsformen, mehr Autonomie, aber auch die Anstellung von niedergelassenen Ärzt:innen.
All diese Entwicklungen haben einen zentralen Hintergrund: Das System, wie es sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, ist anachronistisch und steht auf tönernen Beinen. Denn es baut darauf auf, dass zwei Vertragspartner – Sozialversicherung und Ärzteschaft – Verträge über die Versorgung im niedergelassenen Bereich abschließen. Diese Sozialpartnerschaft war im ASVG-Bereich zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, aber eben auch im Gesundheitswesen durchaus erfolgreich. Das Problem dabei: Das System baut auch darauf auf, dass beide Seiten überhaupt bereit sind, Verträge abzuschließen. Tun sie das nicht, hat die jeweils andere Seite keine Möglichkeit, verpflichtende Lösungen zu finden.
Die wachsende Zahl an Wahlärzt:innen lässt genau diese Sorge innerhalb der Sozialversicherung und der Politik wachsen: Was passiert, wenn die Ärzteschaft keine Verträge über Versorgung oder Honorare abschließen will? Die jüngste Diskussion über den Mutter-Kind-Pass hat diese Ängste verstärkt. Die Ärztekammer drohte bekanntlich mit einer Vertragskündigung, sollten die Tarife nicht endlich angehoben werden. Und selbst die Zustimmung der Bundeskurie niedergelassene Ärzte zum finalen Angebot war noch keine Garantie, weil auch die Kammer nicht sicher war, ob alle Kurien in den Bundesländern mitgehen. „Ich freue mich sehr, dass in allerletzter Sekunde politische Einsicht eingekehrt ist und das Erfolgsmodell Mutter-Kind-Pass gerettet werden konnte. Neben der endlich akzeptablen Valorisierung der seit 1994 nicht mehr angepassten Honorare war für uns auch entscheidend, dass es endlich konkrete Ansätze für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes gibt“, resümierte Dr. Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte. Nachsatz zur Beruhigung der Kassen: „Wir wollen eng zusammenarbeiten und unsere medizinische Expertise einbringen, um Müttern und Kindern auch künftig die beste und umfassendste Vorsorge zu bieten.“
Dennoch überlegt die Politik, einerseits mit größeren Finanztöpfen und mehr Flexibilität zu locken und andererseits die Rute mit Zwangsverpflichtungen in den Raum zu stellen. Das zeigt etwa der Ruf nach einem Ausbau der kindermedizinischen Versorgung. In Wien soll sich 2023 nun in diesem Bereich etwas tun: Im Rahmen einer Pressekonferenz sprachen Vertreter:innen der Wiener Ärztekammer sowie der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) von einem „Durchbruch in der Gesundheitsversorgung für Kinder in Wien“: Nach einem Jahr Verhandlungen habe man sich untereinander und mit den Kassen für öffentlichen Dienst/Eisenbahn/Bergbau (BVAEB), der Selbstständigen-Kasse SVS und der KFA der Stadt Wien auf die Umsetzung von insgesamt neun kindermedizinischen Zentren und Kinder-Primärversorgungseinheiten (Kinder-PVE) geeinigt. Die Stellen wurden öffentlich ausgeschrieben, bis 15. Mai können sich Interessent:innen bewerben. Die für 2023 geplanten neun Zentren und PVE sollen pro Einrichtung im Schnitt 1,8 Millionen Euro pro Jahr kosten, 1,5 Millionen Euro davon kommen von der ÖGK.
„Die neuen Zentren und PVE speziell für Kinder bieten nun auch Ärztinnen und Ärzten der Kinderheilkunde die Möglichkeit, in interdisziplinären Teams zusammenzuarbeiten. Das ist für junge Ärzt:innen ein extra Anreiz und bringt Versicherten eine umfassende Versorgung“, sagt Mario Ferrari, Vorsitzender des Landesstellenausschusses der ÖGK Wien. Die neun Einrichtungen sollen eine niederschwellige und wohnortnahe Versorgung bieten. Die Zentren, in denen zwei Fachärzt:innen mit Team arbeiten können, sollen 40 Stunden pro Woche geöffnet sein, die PVE mit mindestens drei Fachärzt:innen 50 Wochenstunden. Sie werden außerdem auch an Samstagen und Tagesrandzeiten geöffnet sein. Neben Fachärzt:innen sollen ebenfalls Fachkräfte aus der Gesundheits- und Krankenpflege, Sozialarbeit, Diätologie, Hebammenbetreuung, klinischen Psychologie/Psychotherapie, Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie beschäftigt sein.
Interessant: Die geplanten Zentren und Kinder-PVE unterliegen nicht dem Primärversorgungsgesetz, sondern einer Pilotvereinbarung für fünf Jahre. In diesem Zeitraum sollen auch die anfänglichen kindermedizinischen Zentren in Kinder-PVE umgewandelt werden. In der Ärztekammer Wien hofft man, dass die Kinder-PVE ebenfalls ins Gesetz aufgenommen werden – auch, um von den EU-Förderungen zu profitieren. Und: „Die attraktiven Arbeitsbedingungen könnten dazu führen, dass auch Wahlärzt:innen der Kinder- und Jugendheilkunde wieder mehr Interesse an einem Kassenvertrag zeigen“, hofft Erik Randall Huber, Obmann der Kurie des niedergelassenen Bereichs und Vizepräsident der Ärztekammer Wien. Derzeit gibt es in Wien 88 Kassenplanstellen für Kinder-ärzt:innen, sechs davon sind unbesetzt.
In der Steiermark wiederum haben sich die Ärztekammer, die Sozialversicherung und das Land ebenfalls auf neue Systeme in der Primärversorgung geeinigt. Nach langen Projektphasen haben sich die Ärztekammer Steiermark und die ÖGK nun auf einen Vertrag geeinigt, der neben Primärversorgungszentren auch Primärversorgungsnetzwerke berücksichtigt. „Wir haben gerade einen Abschluss in Oberösterreich erzielt, wo wir mit 20 zusätzlichen Planstellen auch im Hinblick auf die Versorgung auf einem guten Weg sind“, sagte ÖGK-Generaldirektor Mag. Bernhard Wurzer zuletzt auch im Ärzte-Krone-Interview. „Es gibt einige Dinge, die sich im niedergelassenen Bereich entwickeln – Stichwort ‚neue Versorgungsformen‘, Ärztebereitstellung wie in Niederösterreich, Stipendien für Jungärzt:innen. Da gibt es ein ganzes Bündel“, sagt Wurzer. Wichtig sei, dass das Primärversorgungsgesetz kommt und umgesetzt werde.
Klar ist jedenfalls, dass auch künftig für Konflikte gesorgt ist, denn zuletzt forderte die Wiener Ärztekammer eine Anpassung der Tarife bei den Vorsorgeuntersuchungen: „Es gibt Reformbedarf“, sagt Erik Randall Huber. „Die Honorare für die VU wurden zuletzt im Jahr 2017 valorisiert. Außerdem ist es an der Zeit, die Leistungen für die Patientinnen und Patienten zu aktualisieren.“