Wie viele Betroffene mit Hörstörungen gibt es in Österreich, welchen Einfluss hat die demografische Entwicklung?
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner ist Vorstand der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie an der MedUni Wien.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner: Grundsätzlich gibt es hier eine Dunkelziffer, weil nicht alle Patient:innen mit Hörstörungen sofort zum/zur Ärzt:in gehen und damit oft lange Zeit undiagnostiziert leben. Man geht aber von durchschnittlich 15 % bis 20 % der österreichischen Bevölkerung aus, die an Hörstörungen leiden. Von 1.000 Kindern wird ca. eines mit Taubheit geboren, bis zum Schulalter kommen weitere Kinder dazu. Im höheren Lebensalter ist der Prozentsatz an Patient:innen mit Hörstörungen natürlich deutlich höher und beträgt bei über 60–65-Jährigen geschätzt 30 % bis 50 %. Das Spektrum erstreckt sich dabei von geringgradigen Hörstörungen, die man kaum merkt oder die nur bestimmte Frequenzen betreffen, über mittelgradige bis zu hochgradigen Hörstörungen, bei denen man wirklich Probleme hat. Mit der Überalterung der Bevölkerung steigt entsprechend auch der Anteil jener mit Hörstörungen.
Wie wichtig ist die Früherkennung von Hörverlust bei älteren Menschen?
Früherkennung ist essenziell. Eine große Hürde dabei ist die soziale Stigmatisierung aufgrund der historischen und natürlich real nicht zutreffenden Konnotation mit geistiger Schwäche – als illustratives Beispiel dazu die Hörschwäche des Hofnarren im Mittelalter als dramaturgisches Standardmittel zur Belustigung. Betroffene haben oft Schuldgefühle und genieren sich, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, das Gegenüber zu verstehen, was besonders schwierig in großen Gruppen ist, wenn viele durcheinanderreden. Patient:innen verdrängen das Problem oft und isolieren sich in der Folge sozial. Sehr oft und leider erst sehr spät nach bereits fortgeschrittenem Hörverlust sind es Partner:in oder Angehörige der Betroffenen, die auf eine ärztliche Konsultation drängen.
Welche Konsequenzen drohen bei verzögerter Diagnose?
Zunächst ist vielleicht wirklich nur die Hörstörung da – es gibt Patient:innen, die viel lesen und sonst sehr viel über Medien konsumieren, aber eben nicht mithören. Die bleiben auch geistig fit. Aber wenn man sich sozial isoliert, wenn man quasi sein Gehirn nicht mehr trainiert, droht ein Teufelskreis mit einer Fülle an weiteren Problemen: Das soziale Training des Gehirns, nämlich die Kommunikation mit anderen Menschen, ist eines der wichtigsten Dinge überhaupt. Das haben uns auch die Lockdowns in der Pandemie drastisch vor Augen geführt, in deren Folge etwa jugendpsychiatrische Erkrankungen rasant zugenommen haben.
Geistiges Training spielt auch in der Demenzprävention eine wichtige Rolle. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen unbehandeltem Hörverlust und Demenzentwicklung?
Grundsätzlich gibt es sehr viele Studien, die diesen Zusammenhang untersucht haben. Bei allen Limitationen in der Demenzforschung wie etwa der Graduierung von Demenzerkrankungen kommen alle großen Metaanalysen und Studien zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt ein signifikant um ca. 8 % bis 10 % erhöhtes Risiko für eine Demenzentwicklung besteht, wenn eine nichtbehandelte Hörstörung vorliegt.
Einzelne Studien zeigen, dass eine Demenzentwicklung bei Patient:innen mit Hörstörungen in der Anfangsphase auch noch umkehrbar ist, d. h., sie können mit einem frühzeitig eingesetzten Hörgerät oder mit einer sonstigen Hörhilfe eine Demenzentwicklung kompensieren.
Welche Maßnahmen empfehlen Sie in der Aufklärung, damit Patient:innen den optimalen Nutzen aus einer Hörhilfe ziehen können?
Das Wichtigste in der Aufklärung ist, dass die Patient:innen verstehen, dass das Zurückziehen von anderen Menschen schnell in eine Abwärtsspirale führt und in der Folge ein beträchtliches Risiko für kognitiven Abbau entsteht.
Für die Patientencompliance ist entscheidend, dass die Patient:innen mit der Hörhilfe so weit zufrieden sind, dass sie diese täglich benützen. In der Anfangszeit muss man sich wirklich erst dran gewöhnen: Man hört Dinge, die weit weg sind und die man gar nicht hören will, oft zu laut, und andererseits kann man die Stimme des Gegenübers in einer großen Gruppe nicht gut herausfiltern. Deshalb ist ein Hörtraining mit Übungsprogrammen unter Einbeziehung der Logopädie unabdingbar.
Nach welchem Algorithmus erfolgt die Auswahl für eine bestimmte Hörhilfe?
Natürlich primär je nach Grad der Hörstörung. Bei einer geringgradigen Hörstörung etwa mit 30 % Hörverlust ist ein kleines Im-Ohr-Hörgerät im Gehörgang ausreichend, das man kaum sieht. Bei mittelgradiger Schwerhörigkeit, etwa bis 60 % Hörverlust, braucht es meist doch ein größeres Gerät, das hinter dem Ohr liegt und das auch für ältere Patient:innen mit den vorhandenen manuellen Fertigkeiten gut bedient werden kann.
„Nicht alle Patient:innen mit Hörstörungen gehen sofort zum/zur Ärzt:in. Sie leben oftmals lange Zeit undiagnostiziert damit.“
Das Ziel muss sein, dass die Patient:innen im Hörtest einzelne Wörter und auch aufwändige Sätze nachsprechen können und im Alltag die Umgebung verstanden wird, ohne dass alle Lautsprecher extrem aufgedreht werden müssen. Bei hochgradiger, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit kommt dann das Cochlea-Implantat zum Einsatz, das den gesamten Hörapparat – äußeres, Mittel- und Innenohr – in seiner Funktion ersetzt und den Hörnerv direkt stimuliert.
Was ist bei Cochlea-Implantaten der derzeitige technologische Entwicklungsstand?
Die neueste Innovation sind vollimplantierbare Cochlea-Implantate, und das ist natürlich etwas sehr Tolles, weil man außen nicht mehr die Batterie tragen muss, alles ist implantiert – wie bei einer künstlichen Hüfte, man sieht von außen gar nichts mehr. Patient:innen, die vorher völlig taub waren, hören nun wieder, sie können ins Wasser springen und ohne Einschränkung in schweißtreibenden Berufen wie beispielsweise als Köch:innen arbeiten. Derzeit läuft dazu eine Studie für eine Zulassung in Europa.
Haben Sie in Ihrer Abteilung bereits Erfahrungen mit vollimplantierbaren Cochlea-Implantaten gemacht?
Wir durften in Wien schon einige Patient:innen implantieren, und nach den ersten Erfahrungen scheint es wirklich genauso gut zu funktionieren wie die bisherigen Implantate, bei denen man außen noch etwas tragen musste. Der kritische Anteil ist das Mikrofon, das nun unter der Haut anliegt und den Schall durch die Haut aufnehmen muss. Das funktioniert erstaunlicherweise ausgezeichnet und in dieser Qualität gar nicht erwartet: Als man das bei den Hörgeräten versucht hatte, war die Schallwandlung sehr kompliziert und nicht zufriedenstellend, aber wenn man es wie beim Cochlea-Implantat quasi nur mechanisch-elektrisch umwandeln muss, scheint das viel einfacher zu sein und sehr gut zu funktionieren. Auch die Patient:innen sind nach den ersten Feedbacks begeistert. Es entwickelt sich also äußerst vielversprechend, und die Aussichten für schwer von Hörverlust Betroffene für die Zukunft sind sehr, sehr rosig.
Vielen Dank für das Gespräch!