Beim Projekt „Alkohol 2020“ arbeiten erstmals die Pensionsversicherungsanstalt (PVA), die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) und die Stadt Wien gemeinsam an einer besseren Versorgung für alkoholkranke Menschen in Wien. Das Projekt wurde im Rahmen der Gesundheitsreform ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Experten wurde ein Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung entwickelt, das die Beteiligten – niedergelassene Ärzte, spezialisierte Suchthilfe-Einrichtungen im ambulanten und stationären Bereich sowie medizinische und berufliche Rehabilitation – miteinander vernetzt und so orientiert an den Bedürfnissen der Patienten ambulante, stationäre, rehabilitative und integrationsfördernde Angebote aufeinander abstimmt. Neben den stationären Angeboten soll es zu einem Ausbau der ambulanten Versorgung kommen. Zusätzlich zu den bereits bestehenden sollen neue Versorgungsstrukturen geschaffen werden. In regionalen Kompetenzzentren werden Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter Ansprechpartner für die Betroffenen sein.
Die einjährige Testphase startete im Oktober des Vorjahres. Das neue Konzept wird im Rahmen eines Pilotprojektes mit einem regionalen Kompetenzzentrum im 6. Bezirk getestet. Rechtsträger ist die Suchthilfe Wien. Wie der Ärztliche Leiter und Sucht- und Drogenbeauftragter der Stadt Wien Dr. Hans Haltmayer erklärt, sollen die regionalen Kompetenzzentren einen leichten Zugang für die Betroffenen ermöglichen. Das Leistungsspektrum erstreckt sich von der Diagnostik über die Erarbeitung von individuellen bedarfsorientierten Maßnahmenplänen bis hin zur Vermittlung der Patienten in die betreuenden Einrichtungen. Durch ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern wird nach einer multidimensionalen Diagnostik, in der die psychische, somatische und soziale Ausgangslage der Betroffenen erhoben wird, mit dem Patienten gemeinsam ein individueller Betreuungsplan erarbeitet, der sich aus mehreren ambulanten und/oder stationären Modulen mit unterschiedlicher Dauer und Intensität zusammensetzen kann. Zur Qualitätssicherung werden die erstellten Maßnahmenpläne anschließend vom Institut für Suchtdiagnostik nach einem Gespräch mit dem Patienten bestätigt oder, falls erforderlich, Adaptierungen vorgeschlagen.
„Zu jedem Zeitpunkt wissen der Patient und die im Maßnahmenplan involvierten Einrichtungen, welcher der nächste Schritt ist und für wann dieser geplant ist. Das Kompetenzzentrum ist an sich eine Drehscheibe, ein Ort, an dem der Betroffene immer wieder andocken kann, unabhängig davon wie sein Zustand ist, ob er einen Rückfall hat oder die Behandlung abbricht oder die Wohnversorgung ein Problem darstellt. Auch Angehörige erhalten Unterstützung, wenn sie es brauchen. Die geplanten Behandlungen finden aber direkt in den spezialisierten Einrichtungen statt. Im Kompetenzzentrum werden nur akute Interventionen gemacht, beispielsweise wenn ein Patient mit akuten Entzugserscheinungen kommt.“
Generell, so Haltmayer weiter, gäbe es einen deutlichen Versorgungsengpass für alkoholkranke Menschen. „Mit dem bestehenden System können nur 6% der Patienten erreicht werden. Das Ziel von Alkohol 2020 ist, 15–20% der Betroffenen zu erreichen. Das geht nicht auf einmal, dafür muss man Schritt für Schritt die Betreuungseinrichtungen ausbauen.“ Erste Erfahrungen des Pilotprojekts zeigten, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten ambulant ausreichend betreut werden kann. „Für viele ist es auch nicht sinnvoll, aus ihrer Arbeitssituation oder ihrem sozialen Umfeld für eine stationäre Behandlung und Rehabilitation herausgerissen zu werden. Und womöglich ist danach ihre Nachbetreuung nicht organisiert.“
Wichtig in der ambulanten Versorgung sei ein vielfältiges Angebot, betont Haltmayer. „Nicht jedes Konzept passt für jeden Betroffenen. Patienten, die schon mehrfach in einer Institution in Behandlung waren und die nicht abstinent wurden oder geblieben sind, sind oft sehr erleichtert, wenn sie es bei einer anderen Einrichtung versuchen können. Es ist dann für sie ein Neuanfang, sie können andere Konzepte kennenlernen und haben nicht so sehr das Gefühl, gescheitert zu sein. Ein wesentlicher Aspekt von Alkohol 2020 ist aber auch, dass Abstinenz nicht mehr das alleinige Behandlungsziel sein wird.“
Ein anderer wichtiger Eckpunkt des Konzepts ist die Vernetzung im Sinne eines Nahtstellenmanagements beispielsweise durch Kontaktaufbau zwischen den Wiener Krankenhäusern und dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk oder Alkoholsprechstunden im niedergelassenen Bereich. Bereits jetzt gibt es im Rahmen des Pilotprojektes eine Kooperation zwischen den Sozialarbeitern von Contact und dem Donauspital.
Wesentlich, so Haltmayer weiter, ist natürlich auch die Vernetzung mit den niedergelassen Ärzten, speziell den Hausärzten, die verstärkt im Rahmen der Früherkennung, Kurzintervention und Nachbetreuung eingebunden werden sollen.
„Anders als jetzt möchte man die Patienten möglichst früh erreichen, wenn das Alkoholproblem noch nicht so groß und therapeutisch noch mehr möglich ist.“ Das unterstreicht auch Dr. Barbara Degn, Ärztin für Allgemeinmedizin in Wien, die bei der Konzepterstellung im Speziellen bei der Konzipierung der Aus-, Fort- und Weiterbildung mitgearbeitet hat. „Da Hausärzte die erste Anlaufstelle für alle Gesundheitsprobleme sind, sind sie besonders geeignet, die Patienten auf Alkoholprobleme zu screenen, um eine Gefährdung frühzeitig zu erkennen, erste Gespräche zu führen und sie wenn nötig an eine geeignete Institution zu überweisen.“
Ziel dieser Kurzinterventionen, so Degn, sei z.B. mit Hilfe des „motivational interviewing“ zu versuchen, den Patienten zu Veränderungen zu motivieren, indem er von sich aus den Wunsch entwickelt, etwas zu tun. „Normalerweise ist es mit einer Intervention nicht getan, sondern das ist ein Prozess, und natürlich müssen Entscheidungen partizipativ getroffen werden.“ Derzeit würden sie selbst und andere Allgemeinmediziner freiwillig am Pilotprojekt mitarbeiten und Patienten an das Kompetenzzentrum überweisen.
Geplant ist, die Sensibilisierung und Wissensvermittlung im niedergelassenen Bereich durch spezifische Fort- und Weiterbildung zu fördern. Kommunikationstrainings können helfen, die Früherkennung zu verbessern, die Förderung von Veränderungsbereitschaft zu unterstützen, sowie die Rückfallprophylaxe zu stärken. Die Teilnahme an regelmäßigen Qualitätszirkeln sollte strukturell verankert sein.
Die ersten Erfahrungen des Pilotprojekts sind sehr positiv, sagt Haltmayer. „Die Patienten schätzen das One-Stop-Shop-Prinzip sehr. Sie kommen zu einem Termin, müssen nicht warten und haben zwei bis drei Stunden Gespräche mit dem Arzt, Psychologen und Sozialarbeiter. Wir nehmen uns viel Zeit, machen die entsprechenden Untersuchungen und überweisen die Patienten an die Gesundheitszentren der WGKK zur somatischen Abklärung, wenn es erforderlich ist. Woanders müssen sie häufig für einen Kurzkontakt lange warten. Sehr gut werden auch die ambulanten Module angenommen. Die Patienten haben regelmäßige psychotherapeutische und ärztliche Termine und werden nicht aus ihrem Alltag herausgerissen. Auch die Befürchtung, dass die Patienten nicht zu uns finden, war unbegründet. Wir haben das gesamte Patientenspektrum, von der Akademikerin bis zum arbeitslosen schwer kranken chronischen Patienten.“