„Billige“ Kassenstellen um wenige Punkte

„Es gibt mittlerweile schon Kollegen, die mit vier Punkten eine Allgemeinmedizin-Kassenstelle bekommen. Das ist ein erster Hinweis auf einen Trend. Man bekommt eine Kassenstelle mit immer weniger Punkten. Kollegen kommen immer schneller nach der Spitalsausbildung in die niedergelassene Praxis.“ – Auf dieses neue Phänomen in der Kassenmedizin wies als Erster der Wiener Ärztekammerpräsident Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres vor Kurzem am Rande der Ärztetage in Grado hin.
Szekeres fügte hinzu: „Was wir in der Allgemeinmedizin derzeit bei der Nachbesetzung von Kassenstellen sehen, wird sich wohl in nächster Zeit auch bei den Fachärzten bemerkbar machen.“

Parameter

Die Gesundheitspolitiker – seit Jahren wird das Aufbrechen eines Ärztemangels in der Kassenmedizin allein schon durch die demografische Entwicklung von vielen Verantwortlichen standhaft negiert – müssten im Grunde nur die Entwicklung bei wenigen Parametern betrachten, um sich ein reales Bild von der Lage zu verschaffen.
Die Daten dazu sind vorhanden: die Anzahl der Bewerber pro ausgeschriebener Kassenstelle und nicht besetzbare Stellen bei der Erstausschreibung – und eventuell die Entwicklung bei der Reihung der Bewerber nach dem jeweiligen Punktesystem.
Ein Beispiel dafür stellt Niederösterreich (NÖ) dar. Die Ärzte Krone recherchierte die entsprechenden Zahlen in Sachen durchschnittliche Anzahl von Bewerbern für offene Kassenplanstellen über die vergangenen Jahre hinweg.
So sieht es aus (Allgemeinmedizin und Fachärzte): 2009: durchschnittlich 3,1 Bewerber; 2010: 3,0; 2011: 2,7; 2012: 2,4; 2013: 2,0; 2014: 1,8.
Wie man bei der Kammer erklärte, sieht man in Niederösterreich noch keinen Trend bei den im Rahmen der Listung der Bewerber eingereichten Punkten. In der steirischen Ärztekammer gab es eine ähnliche Auskunft. Jedenfalls, die „Decke“ bei den Bewerbern wird auf jeden Fall dünner.
NÖ-Kammerpräsident Dr. Christoph Reisner: „Bei den Punktewerten ist das unterschiedlich. Allgemeinmediziner weisen oft um die 40 auf, Fachärzte an die 50. Wir haben einzelne Stellen aber auch schon mit 20 Punkten vergeben.“ Der heraufdämmernde Ärztemangel treffe „vor allem die Allgemeinmedizin“.
Reisner machte aber auch noch auf eine andere Randbedingung aufmerksam: „Bei den Allgemeinmedizinern sind schon mehr als 50% der Nachkommenden Frauen. Bei den derzeitigen Allgemeinmedizinern der Gruppe 55+ sind es ein Viertel. Die Nachkommenden wollen in vielen Fällen von Anfang an einen Jobsharing-Vertrag. Wir brauchen dann aber zwei Bewerber für eine Kassenstelle.“ Das mache die Sache noch komplizierter. Das hatte für Wien auch schon eine Analyse der Kammer für das Jahr 2013 ergeben. Sieben Stellen mit keinen Bewerbern bei den Allgemeinmedizin-Kassenstellen und zehn offene Stellen mit einem Bewerber. Bei den Fachärzten waren laut Szekeres 29 Stellen ausgeschrieben worden – bei sieben gab es nur jeweils einen Bewerber.
Bleibt man beim Beispiel Wien, dann ergibt sich die Reihung bei mehr Bewerbern aus den Kriterien, die einer Vereinbarung zwischen Kammer und Wiener Gebietskrankenkasse aus dem Jahr 2013 zu entnehmen sind. Bereits absolvierte Tätigkeit als Arzt für Allgemeinmedizin (0,25 Punkte pro Monat, maximal neun Punkte), Erfahrung als hauptberuflich tätiger Wahlarzt (0,5 Punkte pro Monat, maximal fünf Punkte), Praxisvertretungen (ein Punkt pro 15 Vertretungstage, maximal 16 Punkte), Berufserfahrung als Teilhaber eines Jobsharing-Vertrages, Arbeit beim Ärztenotdienst, ÖÄK-Diplome – die Liste ist relativ lang.
„72 Punkte sind zu erreichen. Wir hatten früher Wartelisten im dreistelligen Bereich“, hieß es bei der Wiener Ärztekammer. Sie lieferte eine hoch interessante Analyse von Bewerbungen für Kassenstellen aus dem Jahr 2014.
So hatte ein einziger Bewerber für eine Ordination in Wien-Simmering 6,21 Punkte, ein einziger Bewerber für eine Kassenstelle in Wien-Meidling beispielsweise 18,36 Punkte aufzuweisen. Bei Stellen mit mehreren Bewerbern wiesen die Erstgereihten oft um die 30–35 Punkte auf, dahinter aber zeigte sich schon der deutliche Rückgang. In einem Fall (Allgemeinmedizin) in Wien-Liesing wies der zweite Bewerber nur noch 4,04 Punkte auf.
Die Situation ist bei Fachärzte-Kassenstellen nicht unähnlich. Ein Bewerber für einen Vertrag als Pädiater hatte sieben Punkte. Gerade bei den Kinderärzten fanden gleich mehrere ausgeschriebene Kassenstellen nur einen Bewerber. Zumeist wiesen die Fachärzte Punktezahlen von um die 30 auf.

 

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Kassenverträge „Billiger“

„Früher lagen wir bei 50–70 Punkten bei den Bewerbern für Kassenstellen in Wien. Auch diese Entwicklung ist ein Parameter, an dem man den Mangel an Ärzten sieht, der sich derzeit auftut. Die Kassenverträge werden ‚billiger‘“, sagte der Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Niedergelassenen-Kurienobmann in der Wiener Ärztekammer, Dr. Johannes Steinhart, im Gespräch mit der Ärzte Krone.
Die Situation in Vorarlberg und in Oberösterreich ist durchaus ähnlich jener in Wien. „Bei uns in Vorarlberg sieht man den Rückgang bei den Punkten für die Reihung genauso. Das sind jetzt bei den Allgemeinmedizinern oft nur noch um die 20 Punkte. Das heißt natürlich nicht, dass es sich deshalb um ‚schlechtere‘ Ärzte handelt, aber sie kommen eben – wenn überhaupt – direkt vom Spital in die Praxis“, sagte der Vorarlberger Ärztekammerpräsident Dr. Michael Jonas am Rande einer Pressekonferenz in Wien.
Zusatz: „Wirklich offen haben wir derzeit zwei Kassenstellenfür Allgemeinmedizin in Vorarlberg. Es waren aber auch schon sechs …“

Die „Peripherie“ kommt zuerst dran

„Wir sehen das in Oberösterreich genauso. Die Abnahme der Zahl der von den Kassenstellenbewerbern ausgewiesenen Punkte ist selbstredend nur ein Phänomen, das die Abnahme der Zahl der Bewerber spiegelt“, betonte in diesem Zusammenhang der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in Oberösterreich, Dr. Thomas Fiedler.
Fiedler verdeutlichte die Situation mit einem Bild aus der Notfallmedizin, das Konzept der „letzten Wiesen“. „Kommt es zu einem großen Blutverlust, trifft das zuerst die peripheren Körperteile. Und bei den Ärzten für die niedergelassene Praxis scheiden die unattraktiven Regionen zuerst aus.“
Fiedler weiter: „Wir bekommen ein Versorgungsproblem. Es sprechen alle Parameter dafür. Bessere Bedingungen für die niedergelassene Ärzteschaft sind angebracht. Das geht von der Lösung der Frage der ärztlichen Hausapotheken bis zu einer zeitgemäßen Valorisierung des Honorars für die Vorsorgeuntersuchung und für den Mutter-Kind-Pass. Aufrechter Gang ist für uns Ärzte wieder angesagt.“