Das in Österreich vor allem von Josef W. Egger propagierte biopsychosoziale Modell nach G. L. Engel begleitet uns seit zumindest 3 Jahrzehnten. Insbesondere die Umsetzung des „Sozialen“ ist im allgemeinärztlichen Alltag aber nach wie vor weit vom Ideal entfernt. Entsprechend der Diktatur des Dringlichen kommt ganzheitliches Denken in der Praxis aufgrund von Priorisierungen häufig zu kurz. Angesichts der Demografie ist vor allem bei sich wiederholenden oder chronischen Befindensstörungen die ganzheitliche Diagnostik und Therapie im Sinn von Engels mehr denn je für den Erfolg ärztlicher Betreuung ausschlaggebend.
Besonders die COVID-19-Pandemie hat uns vermehrt bewusst gemacht, wie sehr medizinische Anliegen von sozialen Nöten, wie Einsamkeit, existenziellen Sorgen, Ängsten und Hoffnungslosigkeit, begleitet sind. Für viele Menschen kamen – im Sinn von Aaron Antonovsky –Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit der Lebensumstände bleibend abhanden. Besonders verringerte soziale Kontakte begleiteten viele Menschen auch nach Ende der Pandemie.
In den 1990er-Jahren hat sich in Großbritannien mit dem sogenannten „social prescribing“ ein neues Organisationsmodell entwickelt, bei dem versucht wird, Patient:innen im psychosozialen Bereich intensiver durch spezielle Fachkräfte zu betreuen. Diese werden nach ärztlicher Bedarfsfeststellung mit der Förderung von sozialen Kontakten und gesundheitlich relevanten Aktivitäten betraut. Well-being Coordinator, Well-being Coaches, Navigator, Community Connector, Social prescribing Specialist, Health Trainer, Link Worker sind Bezeichnungen für diese neue Gruppe nichtärztlicher Gesundheitsberufe. Im Rahmen eines ganzheitlichen Behandlungskonzeptes sollen soziale Bedürfnisse besser unterstützt werden. In Österreich beginnen zurzeit vor allem Ausgebildete in Sozialarbeit oder in Gesundheits- und Krankenpflege diese Idee im Rahmen von PVE oder freiberuflich zu leben.
„Gesundheitsförderung“ ist ein Stichwort, das seit der Ottawa WHO Charta von 1986 in den gesundheitspolitischen Diskussionen ständig präsent ist: Wie soll ein Gesundheitssystem Menschen gesund halten, also Krankheit erst gar nicht entstehen lassen? Das Medizinsystem stützt sich hier einerseits auf Prävention, also auf Maßnahmen, die Risiken verringern bzw. Folgen von Krankheit oder von krankmachenden Situationen abschwächen und andererseits auf Gesundheitsförderung im engeren Sinn, also Maßnahmen, die Menschen zu einer besseren Resilienz verhelfen sollen. Beratung zu einem gesunden Lebensstil, Unterstützung der existenziellen Gegebenheiten und Vermittlung von sozialen Angeboten stehen hier im Vordergrund. Herausforderungen der Betroffenen durch eine chronische Erkrankung, durch Alter, Einsamkeit, Armut oder niederen Bildungshintergrund sollen besser bewältigbar werden. Gesundheitsförderung ist dabei lebenslang zu denken, ob bei Kindern, die in prekären sozialen Verhältnissen aufwachsen, oder bei Erwachsenen bzw. alten Menschen, die Unterstützung bei der Lebensführung benötigen.
Ein ganzheitlicher Behandlungszugang und Zeit sind Schlüsselfaktoren bei der Umsetzung des biopsychosozialen Modells. Umfassende Behandlungsvorschläge während einer Konsultation scheitern aber auch oft an fehlender Motivation, resignativer Grundhaltung oder mangelhaftem Gesundheitsverständnis von Patientenseite. Zeitgewinn durch Arbeitsteilung kann dem entgegenwirken. Dazu kommt noch die Erfolgschance durch Zusammenwirken verschiedener Kompetenzen als Folge eines anderen Ausbildungsweges.
Amélie Wiegand, Sozialarbeiterin, und Dr. Erwin Rebhandl, Arzt für Allgemeinmedizin, Haslach/Mühl, werden im folgenden Artikel die Bedeutung der Sozialarbeit und die Chancen, die sich durch eine gute Zusammenarbeit von Sozialarbeiter:innen mit Ärzt:innen für Allgemeinmedizin für die Gesundheit der Patient:innen ergeben, eingehen. Ihre Erfahrungen beruhen auf der gemeinsamen Arbeit im PVE Haslach.