Wir verstehen demenzielle Prozesse immer besser als einen dynamischen Ablauf zwischen normalen Veränderungen des Alters und neurodegenerativer Pathologie. Gleichzeitig wissen wir, dass sich bei Alzheimer-Demenz die neurodegenerative Pathologie schon Jahre vor dem offensichtlichen klinischen Beginn entwickelt. Dieses klinisch stumme Intervall stellt uns aber vor die große Herausforderung, Menschen mit subjektiven kognitiven Störungen in eine Gruppe mit hohem Risiko zur Entwicklung einer Alzheimer-Demenz und eine Gruppe mit normalen kognitiven Veränderungen des Alters zu unterteilen.
Die Diagnostik hat in den letzten Jahren massive Fortschritte gemacht und zu einer mittlerweile auch klinisch oft angewandten biologischen Definition der Erkrankung geführt. Diese Biomarker müssen momentan noch invasiv (Lumbalpunktion mit Analyse von Liquor) oder aufwändig (PET-CT) erhoben werden. Die aktuelle Forschung zeigt den Weg aber klar auf: Marker der Erkrankung können schon bald und routinemäßig im Blut gemessen werden. Möglich machen das immer sensiblere Messinstrumente, die selbst kleinste Mengen von bisher nur im Liquor detektierbaren Stoffen nachweisen können. Insbesondere für die Alzheimer-Demenz, die mit 65 % die häufigste Ursache von Demenzerkrankungen darstellt, gibt es bereits eine Reihe von Blutbiomarkern, die zur Diagnose und Prognose eingesetzt werden können und in weiterer Folge vermutlich auch als Therapie- und Risikomarker Verwendung finden werden. Diese Marker könnten in Zukunft anhand genauer Kriterien dazu genutzt werden, Patient:innen zur weiterführenden Behandlung an Zentren oder Spezialambulanzen zu überweisen.
Kognitive Screening-Methoden werden notwendig sein, um insbesondere die Besorgten, aber Gesunden sicher zu identifizieren und von weiterer aufwendiger Diagnostik abzuhalten. Hier könnten digitale Werkzeuge eine große Hilfe sein, da die zur größten Risikogruppe gehörende alternde Generation der Babyboomer mit neuen Technologien vertraut ist, und ein Test am Smartphone oder über andere Geräte keine besonders große Herausforderung mehr darstellt. Entsprechende Testbatterien werden aktuell in anderen europäischen Zentren erprobt und könnten auch für Österreich adaptiert, getestet und schließlich flächendeckend eingesetzt werden. Dies könnte in absehbarer Zukunft mit den oben bereits erwähnten blutbasierten Biomarkern ergänzt werden, die zwar derzeit noch nicht am Markt verfügbar, aber in relativ fortgeschrittener Entwicklung sind.
In der Phase der Screening-Untersuchungen könnte den Allgemeinmediziner:innen die entscheidendste Rolle zukommen. Sollte ein solches Screening-Verfahren ein Risiko für eine tatsächliche Erkrankung nahelegen, könnten Allgemeinmediziner:innen eine weitere Diagnostik im fachärztlichen Bereich empfehlen. Fachärzt:innen für Neurologie und Psychiatrie könnten dann eine umfassendere Abklärung mittels exakter Neuropsychologie, Magnetresonanztomografie, nuklearmedizinischer Untersuchungen (PET-CT) und Liquoranalysen veranlassen.
Obwohl sich viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen auch jetzt schon primär an Allgemeinmediziner:innen und nachfolgend an Fachärzt:innen wenden, ist der oben beschriebene Patientenweg derzeit noch ein Zukunftsszenario. Allgemeinmediziner:innen und Fachärzt:innen gibt es vielerorts zu wenig, und wo es sie gibt, sind zeitliche Ressourcen knapp. Weitflächig verbreitete Demenzzentren im niedergelassenen Bereich sucht man in Österreich leider vergeblich. In Zukunft könnten solche ärztlich geführten interdisziplinären Praxen eine große Lücke in der Versorgung füllen. An einem Ort gebündelt, könnte nach Diagnostik und Therapie der so wichtige Teil der Versorgung passieren, nämlich Sozialbetreuung, Physio-, Ergo- und Logotherapie sowie psychologische Unterstützung für Patient:innen, aber auch deren Angehörige. Aktuell sind viele Patient:innen auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen, die mit ihnen gemeinsam das engmaschige, aber oft undurchsichtige Netz der österreichischen Sozial- und Gesundheitsleistungen durchsteigen müssen. Fehlen solche Bezugspersonen, ist es oft schwierig, außerhalb der stationären Betreuung eine optimale Versorgung sicherzustellen. Die Demenzversorgung der Zukunft könnte also zu einem großen Teil in diesen interdisziplinären Zentren stattfinden und damit die Primärversorger:in-nen, Fachärzt:innen und Spezialambulanzen ergänzen und entlasten.
Neben solchen möglichen Zentren existieren in Österreich bereits jetzt einige Spezialambulanzen für Gedächtniserkrankungen. Durch die Einbettung in Kliniken ist es möglich, jene Diagnostik anzubieten, die im extramuralen Bereich nicht möglich ist oder für die nur wenige Geräte zur Verfügung stehen. Die frühe und genaue Diagnostik, insbesondere der Nachweis einer frühen Alzheimer-Demenz, wird in Zukunft aber deutlich an Bedeutung gewinnen. Darüber hinaus bleiben die Spezialambulanzen die Anlaufstelle für Zweit- und Drittmeinungen, sie bündeln Expertisen zu seltenen Demenzformen (frontotemporale Demenz, genetische Demenzen) und bieten an Universitätskliniken Zugang zu neuartigen Therapien und anderen Forschungsinitiativen.
Ende 2022 wurde mit Lecanemab die erste positive Phase-III-Studie eines Anti-Amyloid-Antikörpers veröffentlicht. Damit wird eine neue Ära in der Behandlung der Demenzen eingeläutet, denn erstmals wird es möglich sein, direkt in die Pathologie der Erkrankung einzugreifen und diese zu modifizieren. Mit der Zulassung durch die europäischen Behörden wird 2023 gerechnet, zum genauen Einsatz bleiben aber viele Fragen offen. Ziemlich sicher ist, dass diese Therapie nur für jene Patient:innen zugelassen werden wird, bei denen eine Amyloid-Pathologie nachgewiesen wurde – aktuell nur mittels Analyse des Liquors oder Amyloid-PET möglich – und die in sehr frühen Stadien der Erkrankung sind. Die Spezialambulanzen könnten hier rasch an die Kapazitätsgrenze stoßen. Je früher Konzepte zur Lenkung und Verteilung der vorhandenen Ressourcen erstellt werden, desto besser können wir die enorme Chance der neuen Therapieoption schon bald nutzen.