Dem (ehem.) Leiter einer deutschen Transplantationsklinik wird von den Strafverfolgungsbehörden vorgeworfen, einigen seiner Patienten seien kurzfristig Spenderorgane zugeteilt worden, weil er bewusst unwahre Angaben über die Dringlichkeit einer Organtransplantation gemacht habe. Dadurch seien diese Patienten in der Warteliste anderen Patienten, die möglicherweise noch lebensbedrohlicher erkrankt waren und schon länger auf ein Spenderorgan warteten, vorgereiht, wodurch letztere kein Spenderorgan mehr erhalten hätten und möglicherweise deshalb verstorben sind. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Es wurden – Zeitungsberichten zufolge – auch weitere ähnliche Fälle in Deutschland entdeckt.
Die EUROTRANSPLANT ist für zahlreiche europäische Länder, darunter auch Deutschland und Österreich, für die Verteilung von Spenderorganen zuständig. Sie weist ein Spenderorgan einem „passenden“ Empfänger auf der Warteliste zu, bei dem eine entsprechend hohe Dringlichkeit aufgrund der Angaben des betreffenden Krankenhauses gegeben ist. Führen nun die Angaben eines Arztes über seine Patienten dazu, dass der Patient vorgereiht wird und ein anderer Patient dadurch nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhält und verstirbt, stellt sich die Frage, ob der Arzt dafür strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann. Die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland werfen dem Arzt „versuchten Totschlag“ in mehreren Fällen vor, weil ihm die Knappheit der Spenderorgane und das Transplantationssystem bekannt gewesen sei und er den möglichen Tod der in der Warteliste zurückgereihten Patienten „billigend in Kauf genommen“ habe.
In Österreich hat sich bislang – soweit ersichtlich – noch kein Strafgericht mit dieser Frage beschäftigen müssen. Die Beurteilung der Strafbarkeit ist in diesen Fällen äußerst komplex. Bei einem Verstoß gegen die Richtlinien zur Vergabe von Organen oder bei der bewussten Manipulation der Krankengeschichte des Patienten könnte auch in Österreich dem Arzt ein strafbares Verhalten vorgeworfen werden, wenn eine durch die Manipulation bewirkte Vorreihung des eigenen Patienten ein anderer Patient verstirbt. Die Rettung eines Patienten rechtfertigt nämlich nicht den Tod des anderen zurückgereihten Patienten, Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden.
Darüber hinaus sind aber viele Fragen offen: Inwieweit hat der Chirurg mit der Krankenakte überhaupt Einfluss auf das Allokationsprinzip der EUROTRANSPLANT? Wie formuliert der Arzt die Dringlichkeit einer Organspende, damit sie entsprechend berücksichtigt wird und er zum einen das Risiko einer Rückreihung anderer lebensbedrohlich erkrankten Patienten vermeidet, zum anderen aber auch das Risiko des Todes des eigenen Patienten bei einer nicht entsprechend vorgenommenen Reihung? Ist die ärztliche Sorgfaltspflicht in Bezug auf den fremden, „übergangenen“ Patienten gleichermaßen gegeben, wie jene in Bezug auf den eigenen Patienten? Ist dem Arzt – wenn überhaupt – die Todesfolge nur des unmittelbar nächsten zurückgereihten Patienten (mit dem gleichen Spenderorganbedarf) zuzurechnen oder auch die weiterer Patienten auf der Warteliste? Und in welchen Fällen lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen, ob der Patient in der Warteliste deshalb verstorben ist, weil ein Patient das Spenderorgan früher erhalten hat?
Wie die deutsche Justiz mit diesen Transplantationsfällen umgehen wird, darf gespannt abgewartet werden.