Zugegebenermaßen waren die letzten gut hundert Jahre von enormen Erkenntnissen der Biomedizin geprägt.
Man sei zu Recht stolz auf die Leistungen dieser Medizin, die unglaubliche Erfolge ermöglicht habe und auch weitere Erfolge erwarten lasse, so em. Univ.-Prof. Dr. Josef Wilhelm Egger von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie Graz in einem Vortrag zum Thema „Vom Modell ‚Der Mensch als komplexe Maschine‘ zum biopsychosozialen Paradigma in der Humanmedizin.“
Und doch stößt das Modell der reinen Biomedizin zunehmend an seine Grenzen und ist überfordert – und zwar so stark überfordert, dass immer mehr Kritik laut wird, wegen der Fokussierung einerseits auf pharmakologische und andererseits auf technisch-chirurgische Möglichkeiten, die den Menschen immer mehr auf eine komplexe Maschine reduziert.
Oft auch als „Apparate- und Reparaturmedizin“ kritisiert, sind die Grenzen der reinen Biomedizin meist schon erreicht, wenn es um chronische Erkrankungen geht, wo nichts mehr zu heilen ist und nichts mehr repariert werden kann. Ganz zu schweigen von somatoformen Beschwerden, für die sich keine ausreichende organische Grundlage festmachen lässt, und überall dort, wo es um Gesundheitsförderung geht.
Für Egger greift jedoch auch der als Gegensatz zum rein biomedizinischen Modell geschaffene Begriff „Psychosomatik“ im ursprünglichen Wortverständnis zu kurz, weil auch die klassische Psychosomatik an der sogenannten Dichotomie von Leib und Seele krankt: Auch „Psycho-Somatik“ basiert noch auf einer „2-Welten-Theorie“, wo Seele und Körper sozusagen 2 parallele Säulen sind, von denen eines das andere beeinflussen kann. Tatsächlich läuft aber alles immer parallel auf allen Ebenen ab und kann gar nicht kausal voneinander getrennt werden.
Körper und Seele. Egger betont, dass man Körper losgelöst von Seele nicht denken kann und umgekehrt Seele nicht losgelöst vom Physiologischen. Unser Denken beeinflusst unsere Gefühle, und unsere Gefühle sind immer auch physiologische Prozesse. Als Konsequenz dieser Erkenntnis ergibt sich daraus eine entscheidende Änderung im Krankheitsverständnis: Damit wird die Unterscheidung zwischen psychosomatischen und nichtpsychosomatischen Krankheiten obsolet!
Entsprechend dem biopsychosozialen Modell ist der Mensch in seiner Gesamtheit (bio – psycho – sozial) zu verstehen: neben dem Menschen als biologisches Wesen auch als Wesen mit typischen Eigenheiten des Denkens und Fühlens und als Wesen mit individuellen sozialen und kulturellen Lebensumwelten.
Auch Gesundheit und Krankheit sind entsprechend dem bio-psycho-sozialen Modell ganz anders definiert, als wir es üblicherweise gewohnt sind. Nicht das Fehlen von Erregern und Pathogenen ist Gesundheit, sondern: Gesundheit sei die ausreichende autoregulative Kompetenz des „Systems Mensch“, mit beliebigen Störungen autoregulativ umzugehen, wie Egger erläutert. Gesundheit ist somit die Fähigkeit, Störungen wirksam zu kontrollieren. Im Gegensatz dazu fehlt bei Krankheit diese autoregulative Kompetenz.
Die moderne klinische Fachrichtung der Psychosomatischen Medizin befasst sich mit Krankheitsbildern, deren Behandlung die Beachtung bio-psycho-sozialer Wechselwirkungen und Zusammenhänge erfordert, wie PD Dr. Christian Fazekas von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Graz, erläutert. Neben dem typischen Beispiel der somatischen Belastungsstörung (funktionellen/somatoformen Körperbeschwerden) geht es auch um eine Reihe von bekannten körperlichen Krankheiten mit klinisch relevanten psychosozialen Faktoren. Dazu zählen etwa Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ II, gastrointestinale Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, dermatologische Erkrankungen (Neurodermitis), aber auch Myokardinfarkt. Laut einer Lancet-Studie ist das Herzinfarktrisiko zu 90 % durch 9 modifizierbare Risikofaktoren – einer davon psychosoziale Faktoren – erklärbar.
Grundsätzlich „spüren wir uns“ alle immer wieder mit gewissen Irritationen. Und „dass wir uns leiblich spüren ist Teil unseres Leiblichseins“, erläutert Fazekas. Die Frage ist jedoch, was das Leiblichspüren beim Einzelnen auslöst. So zeigt eine JAMA-Publikation, dass 60–80 % der gesunden Bevölkerung im Laufe einer Woche selbstlimitierende körperliche Symptome erleben. 10–20 % der Bevölkerung sorgen sich jedoch der Studie zufolge wiederkehrend ernstlich um ihre Gesundheit.
Die in den klinischen Leitlinien zu somatoformen Beschwerden genannten Daten gehen von bis zu 10 % der Bevölkerung aus, die von nichtspezifischen, funktionellen Beschwerden, sogenannten „somatoformen Körperbeschwerden“ betroffen sind. Demnach sind es etwa 20 % (!) aller Konsultationen beim Hausarzt und beim Facharzt, die aufgrund somatoformer Störungen erfolgen.
„Innen“-Wahrnehmung und Krankheitserleben. Entscheidend ist für den Betroffenen zunächst die Innen-Wahrnehmung körperlicher Signale und Empfindungen, die sogenannte „Interozeption“. Fazekas verweist auf die möglichen Zusammenhänge zwischen der Interozeption und dem „Krankheitserleben“. So greifen Interozeption und Selbstregulation (Verhalten, Aktivität), psychisches Empfinden (Selbstvertrauen, Angst, Kontrollverlust), aber auch physiologische Faktoren (Hunger, Durst) und Krankheitserleben (Panik, Herzrasen, Übelkeit et cetera) ineinander.
Fazekas verweist auf Studien, die die Chronifizierung von Schmerzerleben nach akuter Traumatisierung als auslösenden Faktor untersucht haben: Vergleicht man Menschen, die 6 Wochen nach einem Autounfall unter chronischen Schmerzen litten, mit Frauen, die 6 Wochen nach sexuellem Missbrauch unter chronischen Schmerzen litten, dann fällt auf, dass die Schmerzen ähnlich lokalisiert sind und ähnlich stark manifestieren (Kopf, Nacken, Rücken, Knie et cetera), das heißt, dass körperliche und psychische Traumatisierung zu einer ähnlichen Chronifizierung des Schmerzerlebens führen.
Mit all dem Wissen um Zusammenhänge habe sich letztlich wissenschaftlich die Frage gestellt, ob der Begriff funktionelle (medizinisch nicht erklärbare) Symptome noch haltbar sei oder ob nicht vielmehr mit der Definition „somatoforme, das heißt medizinisch nicht erklärbare Störung“ neue Belastungen geschaffen werden.
Diesen Bedenken trägt nun die neue Nomenklatur der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 Rechnung. Der Begriff „somatische Belastungsstörung“ hat seit 2013 die Bezeichnung somatoforme Störung ersetzt. Erstmals wurde damit das bis dahin für diese Krankheitsgruppe wichtige Kriterium des unzureichenden oder fehlenden Befundes fallen gelassen. Diagnostisch stehen die durch die somatischen Beschwerden verursachten psychischen Belastungen im Mittelpunkt.
PNI, die Psychoneuroimmunologie, ist ein neuer Forschungsbereich, der sich mit den hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen Nerven-, Hormon- und Immunsystem und mit den Mechanismen, wie sich psychosoziale Stimuli in diesen Körpersystemen abbilden, befasst. Univ.-Prof. DDr. Christian Schubert, Universitätsklinik für Medizinische Psychologie, Innsbruck, bezeichnet die Erkenntnisse über diese Zusammenhänge als konzeptionellen Durchbruch, der es ermöglicht, den menschlichen Organismus sowie Gesundheit und Krankheit unter einer völlig neuen Perspektive zu sehen.
Nervensystem, Hormonsystem oder Immunsystem – all diese Regelkreise und Systeme sind nicht isoliert zu betrachten, sondern greifen ineinander und werden von psychosozialen Faktoren stimuliert. „Es gibt keine Trennung, wir sind eins“, sagt Schubert.
Ein noch halbwegs überschaubares Gedankenbeispiel für dieses neue Denken und dieses neue Paradigma des biopsychosozialen Modells sei das Immunsystem, wie Schubert erläutert. Dieses ist schulmedizinisch betrachtet ein materielles System aus Immunzellen, Immunmediatoren, Zytokinen et cetera. „Das am ehesten Immaterielle am Immunsystem ist in der Schulmedizin noch das Fieber.“ Tatsächlich findet sich aber die Immunologie auch in der Psychologie, beispielsweise mit dem Ekel als „immaterielles Immunorgan“. Ähnlich die „Angst“, die uns veranlasst, uns vor Verletzung zu schützen.
Wie Schubert am noch relativ einfachen Beispiel einer Bagatellverletzung und der darauf folgenden Reaktion des Immunsystems erläutert, ist der erste Schritt der Zytokinausschüttung quasi die gemeinsame biochemische Sprache, auf die der gesamte Körper mit allen Organen reagiert. Die Zytokinausschüttung wird in allen Organen „dechiffriert“: Im Knochenmark werden Monozyten produziert, in der Leber wird der Akutphasenmetabolismus aktiviert et cetera. Zytokine passieren aber auch die Blut-Hirn-Schranke und schaffen im Gehirn Veränderung, wie etwa die Fieberreaktion, sie bedingten aber auch Veränderungen der Psyche: Das sogenannte „Sickness Behaviour“ – wir fühlen uns schwach und krank – bezeichnet Schubert als eine hochspezifische Strategie des Immunsystems, um Energie zu sparen. Das Immunsystem steuere somit auch das Verhalten.
Als Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Immunsystem und Psyche verweist Schubert auf eine Studie, in der bei Probanden die Spiegel des Entzündungsmediators IL-6 gemessen wurden: So steigen bei Probanden, die Bilder betrachten, die an belastende Krankheiten erinnern, die IL-6-Spiegel. In einer anderen Studie wiederum wurde der Zusammenhang von Prüfungs(!)stress bei Studenten auf die Wundheilung untersucht: Je höher der Stress war, umso schlechter die Wundheilung. Eine Erkenntnis, von der man in der OP-Vorbereitung profitieren könnte.
Zunehmend beforscht wird auch der Placeboeffekt, der mit Konditionierung im Belohnungssystem in Zusammenhang stehen dürfte. In der neueren Literatur wird er auch als Meaning Response bezeichnet und ist als biopsychosoziale Reaktionsform auf positive Erwartungen zu verstehen.
Die Erwartung des positiven Effektes wird mit Konditionierungsexperimenten überprüft. Als Beispiel zur Konditionierung des Immunsystems verweist Schubert auf eine Studie, bei der gesunden Studenten Adrenalin verabreicht wurde, was wie erwartet zu einer (für Adrenalin typischen) unkonditionierten Immunreaktion, nämlich zur Steigerung der Zahl natürlicher Killerzellen (NKT) im Blut, führte. 4 Tage lang wurde den Probanden dann ein Brausebonbon zusätzlich zur Adrenalin-Spritze verabreicht. Ab dem 5. Tag reichte bereits das Brausebonbon allein aus, um die NKT-Aktivität signifikant ansteigen zu lassen. Das Immunsystem – von Schubert auch als sechster Sinn bezeichnet – lernt somit …
Die Psychoneuroimmunologie untersucht also auf vielfältige Weise die komplexen psychoneuroimmunologischen Zusammenhänge und gilt als Forschungsbereich, von dem in Zukunft die meisten Innovationen für Theorie und Klinik zu erwarten sind. Die Erkenntnisse eröffnen auch enorme klinische Möglichkeiten.
Quelle: 23. Sommerakademie für ApothekerInnen am Wörthersee: „Psychosomatik“, Pörtschach, 14.–16. Juni 2019