Wie bei vielen angiologischen Krankheitsbildern liegen keine zuverlässigen Angaben über die Häufigkeit der akuten Extremitätenischämie vor. Bei der großen Mehrzahl der Fälle handelt es sich um inkomplette Ischämien.
Lediglich bei Hochrisiko-Kollektiven kennt man Inzidenzzahlen. Unbehandelte Patienten mit Vorhofflimmern beispielsweise erleiden in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren (CHADS2-VASc-SCORE) in etwa 1–15% der Fälle eine kardiogene – vorwiegend zerebrale – Embolie.
Die Häufigkeit einer akuten Ischämie auf Basis einer Embolie hat im Laufe der Zeit eher abgenommen, was offenbar auf der geringeren Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen durch rheumatisches Fieber und der besseren Überwachung und Antikoagulanzien-Therapie des Vorhofflimmerns beruht. Andererseits hat die Inzidenz der akuten Ischämie auf Basis eines thrombotischen Verschlusses zugenommen.
Ursächlich für eine akute kritische Ischämie kommen in erster Linie embolische oder thrombotische Gefäßverschlüsse in Betracht. Embolien verursachen mit 70–80% die große Mehrzahl der akuten Ischämien und sind insbesondere für die Mehrzahl der kompletten Ischämiesyndrome verantwortlich. Ein angiografisches Beispiel ist in Abbildung 1 dargestellt.
Der akute embolische Gefäßverschluss führt bei einem zuvor gesunden Gefäß wegen des weitgehenden Fehlens von stärkeren Kollateralen zum klinischen Bild der kompletten Ischämie. Hier sind vor allem kardiogene Embolien bei Vorhofflimmern führend. Embolisches Material bleibt vorzugsweise an Gefäßaufzweigungen hängen, besonders im Beckenbereich sowie an der Unterschenkeltrifurkation. Lokale Thrombosen verursachen etwa 20–30% der akuten kritischen Ischämien, vor allem im Rahmen einer obliterierenden Atherosklerose oder bei aneurysmatischen Erkrankungen vor allem der Arteria poplitea. Plaqueruptur und Thrombose bei vorbestehender peripherer arterieller Verschlusskrankheit führen wesentlich seltener zu einer akuten Ischämie als dies im Herz oder Gehirn der Fall ist, da Kollateralgefäße der Extremitäten meist stärker ausgebildet sind und daher die Patienten oft „lediglich“ über eine Verschlechterung der Gehstrecke oder eine inkomplette Ischämie klagen.
Ist aufgrund präexistenter Kollateralenbildung noch eine Restdurchblutung in der dem akuten Arterienverschluss nachgeschalteten Strombahn gewährleistet, so geht dies mit einer inkompletten Ischämiesymptomatik einher, deren Prognose wesentlich günstiger ist.
Die Auswirkungen sind umso schwerwiegender, je zentraler der akute Arterienverschluss gelegen ist.
Die Prognose der Extremität wird beim Vorliegen einer kompletten Ischämie durch folgende Ischämie-Toleranzzeiten der Gewebe bestimmt:
Anamnese: Neben der Frage nach dem Beginn der Symptomatik und nach einer allfälligen multilokulären Symptomatik erlaubt die Anamnese oft schon eine Differenzierung der Ursache der Ischämie. Dabei sollte nach kardialen Erkrankungen (z.B. bekanntes Vorhofflimmern, Vitien), nach einer bereits bekannten PAVK oder früheren Revaskularisation (Bypass oder endovaskulär), nach einem bereits bekannten Aneurysma, nach Risikofaktoren der Atherosklerose sowie nach Traumen gefragt und eine Medikamentenanamnese erhoben werden.
Bei älteren Patienten besteht allerdings häufig eine präexistente Atherosklerose und eine potenzielle kardiale Emboliequelle, sodass dann das Auftreten einer akuten Ischämie sowohl durch eine Embolie als auch durch einen akuten thrombotischen Verschluss verursacht sein kann.
Klinische Untersuchung und Symptome: Die für den Kliniker wesentlichste Differenzierung ist die Unterscheidung einer kompletten und einer inkompletten Ischämie.
Komplette Ischämie: Die Symptomatik ist durch die „6P nach Pratt“ – dieser Autor hat 1954 die typischen Symptome des kompletten Ischämiesyndroms bei akutem Arterienverschluss zusammengefasst – charakterisiert, die jedoch weder simultan noch alle hintereinander auftreten müssen.
Inkomplette Ischämie: Beim inkompletten Ischämiesyndrom kann aufgrund einer noch vorhandenen Minimalperfusion die Symptomatik erheblich abgemildert sein. Ischämische Ruheschmerzen, Pulslosigkeit und Blässe sind die Kardinalsymptome der inkompletten Ischämie. Generell gilt, dass sich arteriell bedingte Ruheschmerzen bei Tieflagerung der betroffenen Extremität bessern. Besonders wichtig zur Beurteilung ist auch die Vergleichsuntersuchung mit der kontralateralen Extremität.
Klinische Klassifikation der akuten Extremitätenischämie: Die wichtigste Frage, welche durch die Anamnese und die klinische Untersuchung rasch und eindeutig geklärt werden muss, ist jene nach der Schwere der akuten Ischämie. Dieser Faktor ist naturgemäß der wichtigste bei der Entscheidung über die Dringlichkeit und Art der weiteren Therapiemaßnahmen. Dabei müssen folgende Fragen letztlich klinisch – was natürlich auch eine gewisse Erfahrung des Klinikers voraussetzt – geklärt werden:
Allerdings droht selbst nach erfolgreicher Wiederherstellung der arteriellen Strombahn bei fortgeschrittener schwerer Ischämie das Reperfusionssyndrom als gefürchtete Komplikation. Einerseits verstärkt die lokale Schwellung die ischämische Gewebsschädigung, und andererseits führen die systemischen Auswirkungen zu einem mitunter tödlichen Multiorganversagen.
Kompartmentsyndrom: Ein Reperfusionsschaden ist eine der häufigsten mit verlängerter Morbidität einhergehenden Komplikationen im Rahmen der Therapie einer akuten Extremitäten-Ischämie. Nach der Reperfusion ist die kapillare Permeabilität erhöht, was zu einem lokalen Ödem mit Druckanstieg im Kompartment mit konsekutiven Muskel- und Nervenschäden führt. Alternativ zur prophylaktischen Fasziotomie kann der klinische Verlauf durch engmaschige klinische und apparative Untersuchungen beobachtet werden.
Apparative Diagnostik: Meist reichen die Anamnese und klinische Untersuchung für die Diagnose der akuten peripheren Ischämie aus. Bei klinischem Verdacht auf komplette Ischämie muss umgehend eine Revaskularisation angestrebt werden. Apparative Untersuchungen spielen daher in dieser Situation nur eine untergeordnete Rolle im Management dieser Patienten. Um keine Zeit zu verlieren, muss vor allem auf aufwendige Untersuchungsmaßnahmen wie eine angiografische Diagnostik verzichtet werden. Eine gewisse Bedeutung kommt hier der rasch verfügbaren Duplexsonografie zu, mit deren Hilfe der klinische Befund bestätigt und insbesondere relevante Informationen zur Lokalisation und Thrombusausdehnung erhalten werden können. Zusätzlich eignet sich die Duplexsonografie sehr gut zur Darstellung thrombosierter Aneurysmen.
Apparative diagnostische Maßnahmen sind insbesondere bei der inkompletten Ischämie – wo meist kein kritischer Zeitdruck besteht – zur differenzialdiagnostischen Abklärung und auch zur Festlegung der weiteren Therapiestrategie sinnvoll. Ziele der Diagnostik sind hier einerseits die Lokalisationsdiagnostik des Verschlusses und andererseits die Abschätzung der Möglichkeit einer endovaskulären oder chirurgischen Revaskularisation.
Die Duplexsonografie ist die Methode der ersten Wahl. Die konventionelle intraarterielle Angiografie hat den Vorteil, dass bei geeigneter Morphologie eine Revaskularisation mittels Katheter (Aspiration, Lyse, etc.) unmittelbar angeschlossen werden kann. Alternativ können – insbesondere bei Verdacht auf das Vorliegen eines Aneurysmas – natürlich auch CT- oder MR-Angiografie eingesetzt werden. Jedenfalls sind spätestens im Anschluss an die Revaskularisation diagnostische Maßnahmen zur definitiven Klärung der Verschlussursache erforderlich (z.B. Echokardiografie, 24-Stunden-EKG etc). Abbildung 2 zeigt einen Algorithmus zur Abklärung beim Vorliegen einer akuten kritischen Beinischämie. Wichtig ist- insbesondere auch in Hinblick auf die weitere Sekundärprophylaxe – eine Differenzierung zwischen thrombotischen vs. embolischen Verschlüssen.
Labor: Laboruntersuchungen sind sinnvoll, um Zusatzinformationen über das Ausmaß der ischämisch bedingten Gewebeschädigung oder weiterer Komplikationen wie einer Nierenfunktionseinschränkung zu erhalten: z.B. Creatinphosphokinase (CPK), Myoglobin, Laktat, Kalium, Kreatinin. Im Einzelfall kann – bei unklarer Ischämieursache – auch eine weiterführende Thrombophiliediagnostik sinnvoll sein.
Alle Patienten mit akuter Ischämie müssen sofort hospitalisiert werden, wobei die Aufnahme im Idealfall in einem Gefäßzentrum erfolgt, wo neben den chirurgischen Verfahren auch alle Möglichkeiten der endovaskulären Therapie zur Verfügung stehen.
Allgemeine Therapiemaßnahmen:
Bei Vorliegen eines thrombotischen Verschlusses auf Basis einer Atherosklerose und geplanter endovaskulärer Therapie sollte zusätzlich eine Therapie mit einem Thrombozytenfunktionshemmer begonnen werden;
Behandlung der kompletten Ischämie:
Prinzipiell gilt, dass bei der kompletten Ischämie – meist auf Basis einer Embolie – die sofortige chirurgische Embolektomie das Verfahren der Wahl ist. Bei Beseitigung des Verschlusses innerhalb eines Zeitfensters von maximal sechs Stunden kann eine Amputation meistens vermieden werden. Lediglich bei Verschlüssen im Unterschenkelbereich kann in erfahrenen Zentren eine endovaskuläre Behandlung mit Aspirationsembolektomie erwogen werden.
Die Amputation muss als ultima ratio gelten, falls Revaskularisationsmaßnahmen fehlschlagen und systemische Komplikationen durch die akute Ischämie drohen. Falls die kritische Ischämie auf ein kleines Areal begrenzt bleibt (Zehen, Vorfuß) und systemische Komplikationen seitens einer Rhabdomyolyse ausbleiben, kann vor einer Amputation eine trockene Demarkation abgewartet werden, um das Amputationsareal so klein wie möglich zu halten. Komplizierende Infektionen oder massiver Muskeluntergang machen eine rasche Operation erforderlich.
Behandlung der inkompletten Ischämie:
In Hinblick auf das Vorliegen einer kritischen Extremitätenischämie muss auf alle Fälle eine rasche Revaskularisation angestrebt werden, wobei vielfach der endovaskulären Therapie der Vorzug gegeben wird. Insbesondere bei Patienten mit thrombotischem Gefäßverschluss auf Basis einer Atherosklerose handelt es sich häufig um Risikopatienten mit ausgeprägter Komorbidität, sodass eine chirurgische Revaskularisation nur mit einem oft deutlich erhöhten Operationsrisiko möglich ist.
Operation vs. endovaskuläre Therapie:
Die kathetervermittelte lokale Thrombolysetherapie (LTLT) hat sich als wertvolle Alternative oder Ergänzung zu chirurgischen Rekanalisationsmaßnahmen etabliert und stellt einen festen Bestandteil im therapeutischen Repertoire des interventionellen Gefäßmediziners dar.
Die Domäne der endovaskulären Therapie ist die inkomplette Ischämie vor allem bei distalen Beinarterienverschlüssen, sowie bei Patienten die chirurgisch nicht oder nur mit hohem Risiko operiert werden können. Die Wertigkeit der LTLT im Vergleich zur primär chirurgischen Revaskularisation wurde in mehreren prospektiv angelegten, randomisierten Studien untersucht. Gepoolte Analysen dieser Studien zur Initialtherapie der akuten Extremitätenischämie ergaben bezüglich Extremitätenerhalt und Überleben nach einem Jahr keinen eindeutigen Vorteil einer bestimmten Strategie.
Die LTLT ist naturgemäß mit einem höheren Risiko für Blutungen verknüpft. Das grundsätzlich erhöhte Blutungsrisiko muss dem allgemeinen Operationsrisiko gegenübergestellt, individuell abgewogen und durch praktische Überlegungen ergänzt werden. Während z.B. kurzstreckige embolische Gefäßverschlüsse einer chirurgischen Embolektomie meist sehr gut und unter Umständen sogar in Lokalanästhesie zugänglich sind, ist umgekehrt der chirurgische Aufwand bei popliteo-cruralen Verschlüssen beträchtlich und insbesondere bei distaler Verschlusslokalisation häufig vergeblich. Je geringer der Schweregrad der Ischämie ist, desto größer ist der therapeutische und zeitliche Spielraum. Bei Arterienverschlüssen mit kurzer Anamnesedauer (< 2 Wochen) und geringem Risiko einer Myonekrose oder ischämischen Nervenschädigung während der Zeit bis zur präsumptiven Wiederherstellung einer suffizienten Perfusion kann die Thrombolysetherapie bevorzugt werden. Bei schwereren Ischämien bietet die LTLT durch die langsamere graduelle Wiedereröffnung der arteriellen Strombahn zumindest den theoretischen Vorteil eines geringeren Risikos systemischer Auswirkungen im Rahmen des Reperfusionssyndroms.
Neue endovaskuläre Therapieverfahren:
Technische Fortschritte bei den endovaskulären Therapieverfahren ermöglichen zunehmend eine raschere Rekanalisation des Verschlusses und eine Verkürzung der Eingriffsdauer, sodass diese endovaskulären Verfahren in den meisten Zentren zunehmend zum Einsatz kommen und die chirurgischen Verfahren verdrängen. Unter diesen Methoden haben insbesondere die perkutane Aspirationsthrombektomie und verschiedene mechanische Thrombektomiesysteme Bedeutung erlangt, wobei sehr häufig eine Kombination der verschiedenen Verfahren zur Anwendung kommt.
Weitere Sekundärprophylaxe:
Nach Behandlung der akuten Ischämie kommt der Sekundärprophylaxe eine entscheidende Bedeutung zu. Bei bekannter Grundkrankheit sollte diese behoben werden, z.B. sollten embolisierende Aneurysmen jeder Größe saniert werden. Bei Morbus embolicus mit kardialer Emboliequelle gilt die Langzeit-Antikoagulanzientherapie als Therapie der Wahl. Bei arterio-arteriellen Embolien ist die Datenlage weniger eindeutig: vor allem bei atherosklerotischer Grundkrankheit können hier Thrombozytenfunktionshemmer ebenso wie die orale Antikoagulation eingesetzt werden. Bei arteriellen Thrombosen sind Thrombozytenfunktionshemmer die Therapie der ersten Wahl. Zusätzlich muss eine Optimierung des Risikofaktorenprofils angestrebt werden.