Die multiple Sklerose (MS) ist die häufigste Ursache für irreversible neurologische Behinderungen im jungen Erwachsenenalter. In der Regel tritt der erste Schub zwischen 20 und 40 Jahren auf. Bei 3 % bis 5 % aller MS-Betroffenen manifestiert sich die Erkrankung bereits vor dem 18. Geburtstag (juvenile MS), bei etwa 10 % tritt sie nach dem 60. Geburtstag auf (Late-Onset-MS). In Österreich leben etwa 13.500 Menschen mit MS, weltweit gibt es etwa 2 Millionen Betroffene.
Die MS ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Nervensystems, bei der es durch autoimmunmediierte Entzündungsprozesse zur Zerstörung von Myelinscheiden und Nervenfasern kommt. Im Frühstadium ist der Entzündungsprozess herdförmig organisiert, hier treten aktivierte Lymphozyten durch die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS ein und bilden um Gefäße lokalisierte Entzündungsherde. Mit der Krankheitsprogression kommt es zu einer diffusen Entzündungsreaktion der gesamten weißen sowie grauen Substanz. Vor dem Hintergrund einer globalen inflammatorischen Infiltration des ZNS können sich immer wieder neue Herde bilden.
MS-Läsionen entwickeln sich bevorzugt in 3 Regionen des ZNS und verursachen gemäß ihrer Lokalisation entsprechende Beschwerden. Diese sogenannten „Prädilektionsstellen“ umfassen den Sehnerv, den Hirnstamm und das Kleinhirn sowie das Rückenmark.
Sehnervenentzündungen gehören zu den klassischen MS-Symptomen. Sie äußern sich in einem Augenbewegungsschmerz und einer Sehstörung. Dabei sind der Farbsinn (besonders Blau/Gelb) und das Kontrastsehen beeinträchtigt. Patient:innen berichten von einer „milchigen Sehstörung“ bis hin zu einer ausgeprägten Visusminderung. Eine komplette Erblindung ist eher untypisch. Symptome, die dem Hirnstamm und Kleinhirn zugeordnet sind, umfassen typischerweise zentrale Augenbewegungsstörungen, Hirnnervenausfälle und Ataxien. Wenn sich MS-Läsionen im Rückenmark bilden, treten zumeist asymmetrische Gefühlsstörungen und Lähmungen der Extremitäten auf. Häufig ist auch der Rumpf betroffen, hier kann man durch Bestimmung des „sensiblen Niveaus“ auf die Höhe des betroffenen Rückenmarksegmentes rückschließen.
Blasenstörungen treten zumeist in Form eines „imperativen Handrangs“ auf, später kann es auch zu einer verzögerten Blasenentleerung mit Restharnbildung kommen, die das Entstehen von Harnwegsinfekten begünstigt.
Neben den beschriebenen MS-Symptomen spielen die sogenannten „unsichtbaren Symptome der MS“ für die Lebensqualität und berufliche Entwicklung eine große Rolle. Fatigue wird von MS-Betroffenen als hochgradig einschränkend beschrieben und führt zu einer verminderten Belastbarkeit im Alltag. Darüber hinaus finden sich im Verlauf der MS häufig kognitive und affektive Probleme. Auch Depression, Angst und Schmerzen zählen zu häufigen Beschwerden. All diese Symptome tragen dazu bei, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen zwischen 15 und 64 Jahren berufstätig ist, meistens in Teilzeit.
Die MS verläuft zu Beginn bei etwa 85 % der Betroffenen schubförmig, das heißt, Phasen neurologischer Beeinträchtigung wechseln sich mit stabilen Phasen ab. Dieser Verlauf kann in ein sekundär progredientes Stadium übergehen, bei dem es zu einer langsam fortschreitenden Behinderung – in der Regel der Gehfähigkeit und Koordination, mit oder ohne aufgesetzte Schübe – kommt. Bei 15 % entwickelt sich die MS primär progredient, das heißt, die Beeinträchtigung von Motorik und Gleichgewicht nimmt langsam schleichend zu.
In den letzten Jahren führte der diagnostische Prozess mithilfe von Klinik, MRT und Lumbalpunktion zu einer immer früheren Feststellung einer MS. Die häufigste Fehldiagnose sind unspezifische Veränderungen der weißen Substanz bei Migräne oder mit zunehmendem Alter.
Es herrscht Einigkeit darin, dass bei sicherer MS-Diagnose sofort mit einer immunmodulierenden Therapie begonnen werden und nicht ein zweiter Schub abgewartet werden soll. Ein früher Therapiebeginn verzögert das Auftreten weiterer Schübe und den Beginn der sekundär progredienten Phase. Dieses Vorgehen führte dazu, dass sich die Prognose der MS deutlich besserte. Während 33–50% der unbehandelten Patient:innen nach 15 Jahren einen sekundär progredienten Verlauf entwickeln, erreichen in der Ära der immunmodulierenden Therapien nur 18 % im selben Zeitraum das Stadium der sekundär progredienten MS (Abb.).
Derzeit stehen über 20 zugelassene Therapeutika aus 9 Wirkstoffklassen zur Verfügung. Man unterscheidet zwischen Medikamenten für den milden/moderaten Verlauf und Substanzen, die bei hochaktiver MS eingesetzt werden. Die Aktivität der Erkrankung wird über die Anzahl der Schübe und das Auftreten von neuen/kontrastmittelanreichernden Läsionen in der MRT erhoben. Die Immuntherapie sollte sich nach der Aktivität der MS unter Berücksichtigung von Schubfrequenz, Schubschwere, Ansprechen auf Schubtherapie, Krankheitsprogression und MRT-Befund richten. Bei der Wahl sollen auch individuelle Aspekte wie Alter, Kinderwunsch und Komorbiditäten berücksichtigt werden.
Wirksamkeitskategorien. Die MS-Therapeutika unterscheiden sich in ihrem Wirkmechanismus, ihrer Applikationsform, der Applikationsfrequenz, dem Grad der Immunsuppression und ihrem Sicherheitsprofil. Man unterscheidet inzwischen 3 Wirksamkeitskategorien: I – Interferone, Glatiramerazetat, Teriflunomid und Dimethylfumarat; II – S1P-Rezeptor-Modulatoren, Cladribin; III– Natalizumab, CD20-Antikörper, Alemtuzumab.
Traditionell werden moderat wirksame Medikamente als First-Line-Präparate eingesetzt. Dieser Ansatz hat in erster Linie Sicherheitsbedenken (erhöhtes Infektionsrisiko, sekundäre Autoimmunität, seltene kardiale Nebenwirkungen) als Grundlage.
Hochaktiv wirksame Medikamente. Der sicherheitsgesteuerten Vorgangsweise entgegen stehen immer mehr Daten und Empfehlungen, die auf eine langfristig bessere Wirksamkeit bei frühem Einsatz hochaktiver Medikamente mit immunsuppressivem Ansatz hinweisen (Time is Brain). Bei der Therapiewahl muss das Risiko der Therapie gegen das Risiko der Behinderungsprogression abgewogen und die aktuelle Therapie bei Verdacht auf unzureichende Wirksamkeit umgestellt werden. Bei ungünstigen prognostischen Faktoren wie einer hohen Läsionslast in der MRT oder Läsionen mit ungünstiger Lokalisation (z.B. Rückenmark) kann auch bei therapienaiven Patient:innen eine hochwirksame Medikation erwogen werden. Die Therapie obliegt in Österreich zertifizierten MS-Zentren und muss im Therapieregister der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie dokumentiert werden. Sobald die MS in einen progredienten Verlauf übergeht, werden die medikamentösen Möglichkeiten geringer. Hier stehen zur Therapie der aktiven, sekundär progredienten MS Siponimod sowie zur Therapie der primär progredienten MS Ocrelizumab zur Verfügung.