Diagnosecodierung – eigene Erfahrungen

Mein erster Kontakt mit ICPC-2 war ein klassisches Aha-Erlebnis. Im Juni 2018 hielt auf Einladung der Österreichischen Ärztekammer Prof. Dr. Thomas Kühlein, Universität Erlangen, einen Vortrag über die Grundlagen der ICPC-2-Codierung.

Da wir kurz vor der Gründung unseres Primärversorgungszentrums standen und die verpflichtende ICPC-2-Codierung in unserem PVE-Vertrag niedergeschrieben steht, wollte ich nicht völlig planlos an die Sache herangehen. Mit der Systematisierung unserer Arbeit mit Hilfe der Diagnosecodierung hat sich für mich tatsächlich eine neue Welt aufgetan. Das intuitiv praktizierte „abwartende Offenhalten“ wird Methode und systematisch erfasst. Der von Prof. Kühlein mitgelieferte „ICPC-2-Pager“ des deutschen Content-Projekts wird meinen Kolleginnen in der PVE und mir, ebenso wie die „Braun-Kasugraphie“ von Dr. Waltraud Fink, Dr. Gustav Kamenski und Dr. Dietmar Kleinbichler zur unentbehrlichen Anleitung bei der Codierarbeit. Die von den Softwarefirmen angebotenen Codierwerkzeuge sind vorerst wenig hilfreich.

Thesaurus: Voraussetzung für korrektes Codieren

So beginnen wir auch „kreativ“ zu codieren, nicht alle Begriffe finden sich in der Kasugraphie. Die bereits vorher bestehenden Kürzel und Begriffe in unserer Software hinterlegen wir mit Hilfe des „2-Pagers“ mit ICPC-2-Codes, um bei der täglichen Arbeit nicht allzu sehr aufgehalten zu sein. Erst im Laufe der Zeit bemerken wir, dass dabei durchaus relevante Fehler passieren, die Begrifflichkeiten – auch im Vergleich mit den anderen PVE – nicht übereinstimmen … In diesem Zusammenhang lerne ich einen wesentlichen Begriff kennen: Den „Thesaurus“ (lat.: Schatz oder Schatzhaus) – in der Dokumentationswissenschaft ein „kontrolliertes Vokabular“.
Auch Prof. Kühlein erwähnt den Thesaurus als eine wesentliche Voraussetzung für korrektes Codieren: Der Wortschatz der Allgemeinmedizin ist in Synonymen zusammengefasst, bereits korrekt codiert und in der Praxissoftware integriert − mit einer Suchfunktion findet man die gebräuchlichen Begriffe und Diagnosen. Fehlerhaftes Codieren ist damit fast ausgeschlossen.

Denn sie wissen nicht, was wir tun …

Bei der gemeinsamen Sitzung aller Stakeholder im September 2021, bei der die Abwicklung der PVE-Evaluierung in Niederösterreich besprochen wurde, zeigte sich, dass ohne Diagnosedaten aus der hausärztlichen Primärversorgung deren Vergleich mit den PVE nur höchst aufwendig durchführbar ist. Man einigte sich darauf, PVE untereinander zu vergleichen und am Standort einen Vergleich von „vor PVE“ mit „mit PVE“ durchzuführen.
In meiner ärztlichen Tätigkeit habe ich 4 Organisationsformen kennengelernt:
Einzelpraxis, Praxisgemeinschaft, Gruppenpraxis und PVE. Mit der Gründung der Praxisgemeinschaft 2003 und über 50 Stunden Öffnungszeiten im Angebot haben wir in der lokalen Primärversorgung einen Meilenstein gesetzt. Der Zulauf war gewaltig. Die Gründung der Gruppenpraxis und der PVE haben, was den Zulauf an Patient:innen angeht, keine großen Änderungen gebracht. Meine Neugier, wie PVE im Vergleich zu anderen Primärversorgungsstrukturen abschneiden, ist groß, kann aber derzeit wohl nicht befriedigt werden. Ich vermute, dass tatsächlich niemand (außer uns selbst) weiß, was wir wirklich tun.
Wo sind die harten Fakten, wenn es um die Fragen geht: Wie viele COVID-Patient:innen werden von Hausärzt:innen betreut? Wie viele Risikopatient:innen betreuen sie? Die Allgemeinmedizin kann keine Antworten liefern. Die Daten fehlen.
Gerade in der Pandemie haben viele Kolleg:innen der Bevölkerung gezeigt, dass man auf sie zählen kann. Den politisch Verantwortlichen fehlen aber Daten und Fakten. Sie können und dürfen ihre Entscheidungen nicht auf Hörensagen stützen. So werden den politischen Ankündigungen, die hausärztliche Primärversorgung zu unterstützen, weiterhin wenig wirkungsvolle Taten folgen. Wir sollten daher versuchen, Daten und Fakten zu liefern. ICPC-2 könnte uns dabei helfen!

Die Logik der ICPC-2

ICPC-2 ist eine Klassifizierung, die von einer Arbeitsgruppe der WONCA (Weltorganisation für Allgemein- und Familienmedizin) seit über vierzig Jahren speziell für die Primärversorgung und Hausarztmedizin erarbeitet und laufend erweitert wurde. Vertreter:innen der ÖGAM (Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin) haben sich ebenfalls daran beteiligt. Sie ist von der WHO anerkannt. Ende 2021 wurde ICPC-3 vorgestellt.
ICPC-2 ist eine elektronisch fassbare Beschreibung von fast allem, was sich in der Primärversorgung zwischen Ordinationsteam und Patient:in abspielt. Codiert werden nur Beratungsanlässe und Beratungsergebnisse mit einer Prävalenz über 1 %.

Es handelt sich um einen dreistelligen Code

Systematik: Die erste Stelle ist ein Buchstabe, der einem Kapitel zugeordnet ist, die zweite und dritte Stelle ist eine Zahlenkombination, die einer Komponente zugeordnet ist. Die Zahlen 1 bis 29 sind Symptomen, die Zahlen 30 bis 69 Prozeduren und die Zahlen 70 bis 99 Diagnosen zugeordnet. Alle ICPC-2-Codes passen auf 2 Seiten eines A4-Blattes.

ICD-10 versus ICPC-2-Klassifikation

Es wird ausgehend vom Beratungsanlass zum Beratungsergebnis codiert, also vom Symptom über Vorgehen bis zur Diagnose (so erforderlich). Im Vergleich zu ICD-10 ist die ICPC-2-Klassifikation deutlich übersichtlicher, dafür weniger genau. Die ICPC-2-Codierung ist stark symptomorientiert.
Sie bildet das abwartende Offenhalten, das in der Allgemeinmedizin gebräuchlich ist, gut ab. Dadurch müssen keine Diagnosen „erfunden“ werden. Solange wir nicht sicher eine Diagnose stellen können, ist es ausreichend, das vorliegende Gesundheitsproblem mit Symptomen oder Symptomgruppen zu beschreiben. Das ist die Stärke der ICPC-2-Codierung.

Bisherige Entwicklungen in Österreich

Aktueller Stand: ICPC-2 wurde im Zuge der Zielsteuerung Gesundheit und zuletzt in der Vereinbarung gemäß Artikel 15a B-VG über die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens aus dem Jahr 2017 als Codierung für die Primärversorgung festgelegt. In allen österreichischen PVE wird verpflichtend mit ICPC-2 codiert. Die Historie von ICPC-2 reicht aber weiter zurück. Ende der 1990er-Jahre hat sich der Arzt und Softwareentwickler Dr. Wolfgang Edinger intensiv mit der systematischen Datenerfassung und Weiterentwicklung von Softwaresystemen für den hausärztlichen Bedarf auseinandergesetzt und mit bei diesem Projekt beteiligten Hausärzt:innen den Begriff des „indirekten Codierens“ geprägt.
Möchte man zum Beispiel die „chronische Niereninsuffizienz“ codieren, gibt man in das Textsuchfeld „chro nie“ ein, und die Suchmaschine schlägt neben anderen Begriffen „U99 chronische Niereninsuffizienz“ vor. Der in der ICPC-2 bei U99 hinterlegte Begriff „Erkrankung Harnorgane, andere“ ist nicht für die Dokumentation in der Krankenakte geeignet, weil zu ungenau. Kollege Edinger hat diese Art des Codierens „indirektes Codieren“ genannt. Der für unsere Dokumentation notwendig genaue Begriff „U99 chronische Niereninsuffizienz“ ist somit nicht ident mit dem Begriff des Codes „U99 Erkrankung Harnorgane, andere“, der zur Datenerfassung nach außerhalb der Ordination verschickt wird. Diese Möglichkeit der Codierung ist von einem geeigneten Thesaurus abhängig. An der Erstellung eines solchen wird derzeit intensiv von Seiten der ÖGAM unter Einbindung der bereits codierenden PVE gearbeitet.

Blick über den Tellerrand

Seitens der ÖGAM haben wir uns besonders für das Schweizer FIRE-Projekt (Family Medicine Research Using Electronic Medical Records) interessiert, das seit 2009 läuft. Mit den wissenschaftlich verantwortlichen Kolleg:innen haben wir bereits Kontakt aufgenommen. Bei FIRE werden Daten aus den hausärztlichen Praxen erfasst und ausgewertet. 29 wissenschaftliche Arbeiten wurden bisher mit Hilfe dieser Daten vom Institut für Hausarztmedizin in Zürich publiziert. Ein ähnliches Projekt an einer Universität in Österreich zu etablieren ist vonseiten der ÖGAM angedacht.

Ausblick

Was wäre, wenn …

  • … wir ein Pilotprojekt mit interessierten Allgemeinme-diziner:innen starten, denen wir einen geeigneten Thesaurus zur Verfügung stellen, um ihnen das Codieren zu erleichtern?
  • … wir einen Decision Support über eine Website entwickeln, der über die Eingabe von ICPC-2-Codes die Weiterleitung zu Leitlinien, Scores, Guidelines ermöglicht und in jede Praxissoftware implementierbar ist?
  • … wir in Kooperation mit der Gesundheit Österreich GmbH und dem Hauptverband die Verwirklichung dieses Pilotprojektes vorantreiben und finanziert bekommen?
  • … wir in Zukunft durch die erhobenen Daten alle hausärztlichen Organisationsformen in Österreich vergleichen und so eine faktenbasierte Diskussion über Primärversorgung starten könnten?