Mit „Patient Advocacy, Selbsthilfe und mündige Patient:innen – wo sind die Unterschiede, und wohin muss sich das Gesundheitswesen entwickeln?“, hatte sich die 125. Veranstaltung der Reihe ein durchaus inhaltsreiches Thema gesetzt. „Die Patient:innen stehen im Mittelpunkt. Aber da stehen sie im Weg. Da ist noch viel zu tun!“, stellte der Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, Dr. Jan Oliver Huber, in seinem Eingangsstatement fest. Der Initiator der Veranstaltung und Co-Moderator, Assoc. Prof. Dkfm. Dr. Guido Offermanns (Universität Klagenfurt), sagte im Hinblick auf Beobachtungen des Wiener Soziologen Roland Girtler: „Der moderne, mündige Patient als wissender, skeptischer und kritischer Mensch kann für Ärzt:innen auch schwierig sein.“
„Wir sind alle aktuelle, frühere oder potenzielle Konsument:innen des Gesundheitssystems“, betonte Mag.a Carina Schneider (Childhood Cancer International Europe – CCI Europe), die als Jugendliche an einem Ewing-Sarkom gelitten hat und als ausgebildete Psychologin jetzt hauptberuflich als Patient:innen-Vertreterin arbeitet, den breiten Anspruch des Patient:innenengagements in eigener Sache.
Die Frage, ob das österreichische Gesundheitswesen genügend auf die Bedürfnisse und Interessen aller Österreicher:innen eingeht, hat sich mit der COVID-19-Pandemie brisant und neu gestellt. Huber: „Die Politik hat sich gerade nicht mit Ruhm bekleckert, was das Management der Pandemie betrifft. Da ist viel an Erwartungshaltungen in Richtung der Verantwortlichen gegangen, die sich nicht erfüllt haben.“ Zu hoffen sei, dass man sich zumindest jetzt auf den kommenden Herbst gut vorbereite.
Selbsthilfe und Patient Advocacy haben ein riesiges Spektrum an Funktionen: Austausch von Informationen Betroffener, psychologische Stütze in schwierigen Lebenssituationen bis hin zur politischen Vertretung bezüglich Versorgungssituation und Zugang zu den innovativsten und effizientesten Mitteln der Diagnostik und Therapie, zu Nachbetreuung, Rehabilitation und Wiedereingliederung in das Berufsleben.
„Es geht darum, die Stimme der Patient:innen zu stärken. Es darf nicht nur ‚über‘, sondern es muss ‚mit‘ den Krebspatient:innen gesprochen werden. Es wird in den nächsten Jahren erhebliche Probleme geben. Krebserkrankungen werden zunehmend geheilt oder in chronische Erkrankungen übergeführt werden“, sagte Helga Thurnher, Obfrau der Anfang vergangenen Jahres gegründeten „Allianz der onkologischen Patient:innen“ Österreichs, Dachverband von 14 Selbsthilfeorganisationen. „Lebensqualität und nicht nur Lebensverlängerung sind wichtig“, erklärte Helga Thurnher. Die Teilhabe der Betroffenen, die Vertretung in Gremien, in denen die gesundheitspolitischen Entscheidungen getroffen werden, seien hier entscheidend – „mit Stimme, nicht als Aufputz oder als Feigenblatt“.
Selbsthilfe hat jedenfalls bereits eine lange Geschichte. „Die erste Erwähnung eines ‚Ombudsmannes‘ stammt aus dem 14. Jahrhundert, aus der chinesischen Ming-Dynastie“, sagte Ing. Claas Röhl (Neurofibromatose Kinder, EUPATI Austria). Die sozialen Reformprogramme im 19. Jahrhundert hätten einen ersten Schub in diese Richtung bedeutet. „In den 1920er-Jahren spielten Pflegekräfte eine wichtige Rolle bei der Beschreibung der Patient:innenrechte in ihrem Ethik-Codex. Erste Selbsthilfegruppen entstanden in den 1940er- und 1950er-Jahren. Moderne Patient-Advocacy-Gruppen formierten sich vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren. Beispiele sind ihre HIV/Aids- und Brustkrebs-Patient-Advocacy-Vereinigungen“, erklärte Röhl.
Die grundlegende Funktion sei immer gleich geblieben, betonte Röhl, der als Vater einer an Neurofibromatose erkrankten Tochter aktiv wurde: „Selbsthilfegruppen sind oft die letzte Instanz, die Patient:innen in einer verzweifelten Lage abholen. Oft, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird.“ Patient:innenorganisationen und Patient Advocacy hätten sich aus den Selbsthilfegruppen heraus entwickelt und unterlägen ständiger Weiterentwicklung. Im Endeffekt müsse es darum gehen, die Interessen möglichst vieler „mündiger Patient:innen“ zu vertreten, ihnen eine Stimme zu geben.
„Ein/e mündige:r Patient:in ist in der Lage, selbstbestimmt über entscheidende Belange der eigenen Gesundheit zu entscheiden. Die Voraussetzung ist die Aneignung von Gesundheitskompetenz“, sagte Röhl. Patient Advocacy als Weiterentwicklung der Selbsthilfe bedeute schließlich, dass Patientenvertreter:innen als Fürsprecher:innen und Vermittler:innen zwischen Patient:innenpopulationen und den Akteur:innen im Gesundheitswesen aufträten. Die Funktionen reichten vom Fundraising und Awareness-Bildung bis hin zu politischer Kommunikation, Empowerment, Mitarbeit in F&E sowie beim Aufbau fehlender Versorgungsstrukturen. Das Ziel sei „Shared decision making“ in den ureigenen gesundheitlichen Angelegenheiten der Betroffenen. Das führe zu mehr Zufriedenheit der Patient:innen, angepassten Entscheidungen über Therapien und zu besseren Behandlungsergebnissen.
Gerade die immer komplexer werdende Entwicklung neuer Verfahren in Diagnose und Therapie von (Krebs-)Erkrankungen erfordert zunehmend auch die Einbindung von Patientenvertreter:innen. „Es wird zunehmend schwierig, zu Förderungsmitteln zu kommen, wenn nicht Patient:innenorgani-sationen mit an Bord sind“, sagte Mag.a Carina Schneider (Childhood Cancer International Europe; CCI Europe). Umfragen hätten allerdings ergeben, dass der Begriff „Patient:innenbeteiligung“ sowohl von den Betroffenen selbst als auch von den Gesundheitsfachpersonen noch immer fälschlicherweise mit Compliance oder dem Befolgen ärztlicher Anordnungen gleichgesetzt werde. „Patient:innenbeteiligung und Beteiligung der Bürger:innen (Patient and Public Involvement; PPI; Anm.) in der Forschung ist als Forschung definiert, die nicht ‚für‘ oder ‚über‘ Patient:innen ausgeführt wird, sondern Forschung, die ‚mit‘ oder ‚von‘ PatientInnen durchgeführt wird“, erklärte Carina Schneider. Individuelle Patient:innen könnten ihre persönlichen Erfahrungen mitteilen, Patient:innenvertreter die Erfahrungen größerer Gruppen darstellen. „Patient Experts“ schließlich könnten bei Planung und Durchführung von Studien eben ihre sprichwörtliche Expertise einbringen.
Wesentlich vorangekommen sei Österreich in den vergangenen Jahren allerdings nicht, betonte schließlich Univ.-Prof. Mag. Dr. PhDr. Wilhelm Frank (Danube Private University): „Das Gesundheitssystem ist grundsätzlich ein System, das keine Rezeptoren aussendet, um zu sagen ‚Es wird zugehört.‘ Es wird den Patient:innen nicht zugehört. Es wird den Gesundheitsberufen, der Industrie, den Ärzt:innen und sonst niemandem zugehört.“ Notwendig sei politisches Commitment mit einem Patient:innenvertretungsgesetz, das die Funktionen der Handelnden definiere und festlege.
Wobei, so Dipl.-Ing. Thomas Derntl (Multiples Myelom Selbsthilfe Österreich), gerade an die Selbsthilfe immer höhere Anforderungen gestellt werden: „Wir haben da Handlungs- und Modernisierungsbedarf und benötigen auch eine Professionalisierung.“