Widler ist seit Anfang des Jahres Präsident der Aerzte Gesellschaft des Kantons Zürich und seit 1987 Hausarzt in Zürich mit einer Gruppenpraxis und drei angestellten Ärzten. Gegenüber der Ärzte Krone stellte er jetzt die Situation des Gesundheitswesens zu Österreich durchaus vergleichbaren Problemen dar. Eines ist klar: Die Ärzteschaft sollte bei ihren Anliegen nicht klein beigeben. Der Grund: Die Gesundheitspolitik wird in Zukunft um deren unverzichtbare Leistungen kämpfen müssen. Oder sie riskiert den Schiffbruch des Gesundheitssystems.
Gemeinsames Charakteristikum Österreichs und der Schweiz ist der beginnende Ärztemangel. Dr. Widler: „Die Ärztegesellschaft hat rund 5.800 Mitglieder, von denen rund 4.000 den Beruf ausüben. Etwa je die Hälfte ist im Spital bzw. in der niedergelassenen Praxis tätig.“
Das derzeit größte Problem, so der Standesvertreter: „Wir haben ein Problem, in den Landgemeinden die Hausarztstellen nachzubesetzen. Und in den Spitälern ‚borgen‘ wir uns rund 30% der Ärzte von unseren benachbarten ‚Freunden‘ aus.“
In der Schweiz arbeiteten im Jahr 2013 rund 9.750 Ärzte mit anderswo erworbenem Diplom bzw. Berufsberechtigung. 5.600 davon stammten aus Deutschland. Es ginge also – ohne dass österreichische, deutsche und Ärzte von anderswo nicht guten Konditionen in der Eidgenossenschaft folgen würden – bereits sehr „eng“ im finanziell an sich gut aufgestellten Schweizer Gesundheitssystem zu. Freilich, an der gesellschaftlichen Entwicklung auch unter der Ärzteschaft ändert das nichts. Der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft: „Von den jungen Kollegen arbeitet nur noch ein Drittel mehr als 60% einer Vollzeit-Stelle. Man müsste also zumindest zwei Ärzte ausbilden, um die ‚alten‘ zu ersetzen.“
Hinzu kommt noch der Umstand, dass es in der Schweiz ja mehrere Landessprachen gibt, die der Arzt verstehen sollte. Da stößt man mit Medizinern aus dem Ausland auch schnell an die Grenzen. Widler: „Sie sollten eben die Landessprachen sprechen.“
Auch bei den einzelnen Fachdisziplinen wirkt sich der Mangel bereits aus. Der Zürcher Standesvertreter: „Wir haben Mängel an Hausärzten, Psychiatern und Frauenärzten. Ich sage eben: ‚Bei uns wurde der Kampf um die Patienten von einem Kampf der Patienten um den Arzt ersetzt.“
Wem in Österreich noch die Klagen professioneller Polit-Ärztekritiker vom vergangenen Sommer rund um die endgültige Fassung des Primary-Health- Care-Konzepts im Rahmen der Gesundheitsreform in den Ohren tönt – „Um Gottes willen, schon wieder ‚der Arzt im Mittelpunkt‘“ –, könnte sich bei den Schilderungen aus der Schweiz gelassen zurücklehnen: Auch wenn’s die Gesamtpolitik nicht, und die Gesundheitspolitik nur beschränkt anerkennen will, ohne Ärzte geht’s wohl nicht!
Wenn man genau hinhörte, vernahm man solches schon vor einiger Zeit vom Vizepräsidenten der Österreichischen Ärztekammer, Dr. Karl Forstner, bei einer Pressekonferenz in Wien. Ärzte hätte es immer gegeben. Und die hätten in privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystemen bis heute genauso überlebt wie in anderen. Aber ohne Ärzte ist das Ende der Versorgung da. Fazit: Auf die Politik kommt es an, ein System zu garantieren, um den Zugang zur ärztlichen Versorgung zu gewährleisten. Ärzte benötigt die Gesellschaft auf jeden Fall.
Zwölf Jahre hatte Dr. Urs Stoffel die Position des Präsidenten der Ärztegesellschaft im Kanton Zürich innegehabt. Er sagte in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung im Dezember 2014: „Mit der Pensionierung der Babyboomer wird die bisher größte Gruppe von Leistungserbringern zu Leistungsbeziehern. Das heißt, diese Generation lässt sich nicht mehr eins zu eins ersetzen – zumal die Zukunft der Medizin weiblich ist. Schon heute übernehmen häufig zwei oder drei Frauen, die je 30–40% arbeiten, eine klassische ehemalige Einzelpraxis. Allerdings pochen nicht nur die Ärztinnen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch viele junge Ärzte wollen nicht mehr 100% arbeiten. Deshalb müssen heute 1,7 Studenten ausgebildet werden, um ein 100-Prozent-Pensum abzudecken.“
Widler sieht sich mit seiner Hausarztpraxis in Zürich genau in dieser Situation: „Ich habe in meiner Praxis drei Ärztinnen angestellt, zwei davon sind Fachärztinnen. Sie haben Kinder. Wenn da eines krank wird, können sie nicht arbeiten.“ Und die anderen sind familienbedingt auch nicht so flexibel, dass immer jemand einspringen kann.“
Gefragt sind wesentliche Änderungen in der Organisation der medizinischen Versorgung, sowohl im niedergelassenen Bereich als auch in den Spitälern. Der Zürcher Hausarzt: „Wir brauchen einen Strauß von Maßnahmen. Große Diskussionen gibt es derzeit in Bern, welche Tätigkeiten die Krankenpflege abdecken kann. Und überlegt wird beispielsweise auch, ob nicht auch Apotheker bestimmte Impfungen verabreichen können sollen.“
Da müsse man insgesamt aber mit großem Augenmaß agieren. Die Abgrenzung von Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen den einzelnen Berufsgruppen ist auch in den Schweizer Kantonen eine heikle Angelegenheit.
Ein Projekt, das man jetzt in im Kanton Zürich plant: eine Neuorganisation des Notfalldienstes. Da gab es bisher eine Dienstpflicht. Doch das lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. „Das soll jetzt eine private Organisation professionell übernehmen“, sagte Widler. Die wolle man aber über die Ärztegesellschaft ins Leben rufen, um die Agenden in ärztlicher Hand zu behalten.
Wie sonst auch die Schweizer Ärzte offenbar mit ähnlichen Problemen mit der Politik kämpfen wie die österreichischen. „Wir stellen fest, dass man die Ärzte in den vergangenen Jahren bei den Entscheidungen immer mehr an den Rand gedrängt hat. Die Probleme auslöffeln müssen dann die Patienten und die Ärzte.“
Die Ärzte müssten sich ihres Wertes bewusst sein, die Vertretung der Patienten müssten diese schon selbst in die Hand nehmen. Widler: „Wir Ärzte müssen selbstverständlich auf unsere Patienten schauen. Aber die Patienten müssen schon auch auf ihre Interessen selbst schauen.“
Wobei in den Krankenhäusern – und dorthin gab es lange einen Zuzug von Ärzten aus dem Ausland – durchaus ähnliche Probleme wie aktuell in Österreich. Nicht wegen der Bezahlung, die ist in der Schweiz anerkanntermaßen wesentlich besser, sondern einfach wegen der Möglichkeit, Karriere mit natürlich besonderem Einsatz machen zu können. Der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft: „Wenn ein Spitalsarzt nicht mehr als 50 Stunden arbeiten darf, wird er nicht die Karriere wie mit 70 oder 80 Wochenstunden machen. Das ist die Quadratur des Kreises.“
Die Diskussion, wie in Österreich mit den neuen Arbeitszeitregelungen für die Spitalsärzte der bisherige Leistungsumfang gehalten werden kann, hat noch nicht einmal begonnen. Es ist nicht das Gehalt allein.