Eine Erkrankung mit vielen Gesichtern

Bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) handelt es sich um eine neurodegenerative Erkrankung, die mit rasch fortschreitenden Lähmungen der Extremitätenmuskulatur sowie mit Störungen des Sprechens, des Schluckens sowie mit einer Atemmuskelschwäche einhergeht. Die Erkrankung führt innerhalb weniger Jahre zum Tod. In den allermeisten Fällen dürfte ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung sowie aus Umweltfaktoren ursächlich involviert sein, wobei die genauen zugrundeliegenden Faktoren weitgehend unbekannt sind (sporadische ALS-Form). Bei ca. 10 % der Patient:innen werden dagegen der Erkrankung zugrunde liegende Genmutationen gefunden, die in weiterer Folge an die Nachkommen weitervererbt werden können (genetische ALS-Form). Derzeit sind über 40 verschiedene Gene in Assoziation mit der ALS bekannt.

Diagnose

Die Diagnose erfolgt anhand der Gold-Coast-Kriterien – in erster Linie klinisch und elektrophysiologisch. Immer öfter werden dazu auch die Neurofilamente aus dem Serum bzw. aus dem Liquor zur Abgrenzung gegen mögliche Differenzialdiagnosen bestimmt. Die Neurofilamente „light chain“ (NfL) und „heavy chain“ (NfH) haben sich in den vergangenen Jahren hier besonders als diagnostische und prognostische Biomarker etabliert.

Therapie

Die Therapie erfordert immer eine individuelle Anpassung an die Einschränkungen bzw. Bedürfnisse der Patient:innen und sollte insbesondere auch eine Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie enthalten. Es wird das Ausfüllen einer Patientenverfügung empfohlen, in der alle wichtigen Therapieentscheidungen festgehalten werden sollten. Im Folgenden wird auf wichtige Therapieempfehlungen näher eingegangen.

Riluzol

Mit Riluzol steht allen Patient:innen ein Medikament in Tablettenform oder als Lösung zur Verfügung, das den Erkrankungsverlauf verlangsamen kann. Es wird in der Regel sehr gut vertragen, nur sind in den ersten Monaten regelmäßige Kontrollen der Leberparameter im Blut erforderlich, da die Therapie selten zu einer Leberfunktionsstörung führen kann. Nach dem Absetzen der Therapie erholt sich die Leber in diesen Fällen meist wieder.

Symptomatische Therapien

Es stehen betroffenen Patient:innen für die Vielzahl der möglichen Beschwerden symptomatische Therapien zu Verfügung. Häufig handelt es sich um Krämpfe, Muskelzuckungen und übermäßigen Speichelfluss, die allesamt gut therapiert werden können. Es können aber auch Hilfsmittel zum Einsatz kommen, wie zum Beispiel die Anlage einer Ernährungssonde (PEG-Sonde) zur Aufrechterhaltung der Kalorienzufuhr sowie die (nicht-)invasive Beatmung bei Ateminsuffizienz. Insbesondere sollte auch auf einen Cough Assist nicht vergessen werden, der bei insuffizientem Hustenstoß für die Betroffenen eine große Hilfe bedeuten kann.

Psychosoziale Betreuung

Die ALS-Diagnose geht mit großen psychischen und sozialen/finanziellen Belastungen einher. Die psychosoziale Betreuung der Patient:innen durch Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen spielt daher bereits bei Diagnosestellung eine wichtige Rolle. In der Praxis haben jedoch nur sehr wenige Patient:innen Zugang zu entsprechenden Leistungen, u. a. aufgrund von fehlenden Ressourcen und aufgrund bürokratischer Hürden (wie z. B. bei der Pflegestufenbeantragung).

Tofersen

Bei Tofersen handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid (ASO), das durch spezifische Interaktion mit der SOD1-mRNA die Bildung des Genproduktes hemmt und folglich die Zelltoxizität durch fehlgefaltetes SOD1 gemindert wird. Die Verabreichung von 100mg Tofersen erfolgt intrathekal, im ersten Monat zweiwöchentlich und danach in monatlichen Abständen. In der Phase-III-Studie (VALOR-Studie) wurde der primäre Endpunkt, die anhand der ALS-Funktionsskala (ALSFRS-R) gemessene Progression, nicht erreicht. Allerdings kam es unter der Therapie mit Tofersen zu einer deutlichen Abnahme des NfL-Biomarkers, was von der FDA als ausreichendes Kriterium für die Wirksamkeit anerkannt wurde. Inzwischen liegen auch Daten aus der offenen Verlängerungsphase vor, welche die Wirksamkeit bestätigen. Von der EMA gibt es inzwischen auch schon eine Empfehlung für die Zulassung, womit im Jahr 2024 noch gerechnet wird. Bis zur endgültigen Zulassung durch die EMA ist Tofersen über ein „Early Access Program“ verfügbar. Die Verfügbarkeit einer wirkungsvollen Therapie hat zur Folge, dass alle ALS-Patient:innen hinsichtlich der Möglichkeit einer genetischen Austestung auf SOD1-Mutationen aufgeklärt werden sollten, was mit einer genetischen Beratung einhergehen sollte.

Praxismemo

  1. Bei der neurodegenerativen Erkrankung ALS kommt es zu Lähmungen sowie Sprach- und Schluckstörungen.
  2. Die Therapie sollte immer an die individuellen Einschränkungen und Bedürfnisse angepasst erfolgen.
  3. Mit Tofersen steht erstmals eine Therapie für Patient:innen mit SOD1-Mutationen zur Verfügung.