Vorbereitet auf Angelika, Maria und Peter hat mich der Öhi – oder besser gesagt, all die Patient:innen und Geschichten aus der Lehrpraxis und meiner Zeit in der hausärztlichen Allgemeinmedizin. Das Medizinstudium und die Ausbildung im Krankenhaus liefern die einzelnen Puzzleteile – Fragmente aus Wissen und Fertigkeiten, die man später für die Arbeit braucht; manchmal nicht nur einzelne Bausteine, sondern ganze Sets davon. „The bigger picture“ lernt man aber erst im Beruf selbst kennen, und nichts bereitet einen besser darauf vor als die Ausbildung im eigenen Fach. Es geht hierbei nicht nur um die rein medizinischen Skills, um medizinisch-technische Fertigkeiten, Evidenz und Wissen – es geht hierbei um die Breite und Komplexität der Probleme, die wir im Krankenhaussetting nur erahnen können, und tatsächlich auch um die „anderen Dimensionen“ verglichen mit dem Krankenhaussetting, in denen sich unser Fach bewegt.
McWhinney schreibt dazu in „Principles of Family Medicine“:
„Hausärzt:innen sind eher einer Person verpflichtet als einem bestimmten Wissensgebiet, einer Krankheitsgruppe oder einer speziellen Technik. Diese Verpflichtung ist in zweierlei Hinsicht offen. Erstens ist sie nicht durch die Art des Gesundheitsproblems begrenzt – Hausärzt:innen sind für jedes Gesundheitsproblem einer Person jeden Geschlechts und jeden Alters verfügbar: Es sind die Patient:innen, die das Problem definieren. Das bedeutet, dass Hausärzt:innen niemals sagen können: ‚Es tut mir leid, aber Ihre Krankheit fällt nicht in mein Gebiet.‘ […] Zweitens hat die Betreuung der Patient:innen keinen definierten Endpunkt. Die Betreuung wird nicht durch die Heilung einer Krankheit, das Ende einer Behandlung oder die Unheilbarkeit einer Krankheit beendet. In vielen Fällen wird die Betreuungsvereinbarung bereits zu einem Zeitpunkt eingegangen, an dem die Person gesund ist – bevor sich ein Problem entwickelt hat.“1
Dr.in Rabady hat es zuletzt in ihrem Artikel in der Wiener klinischen Wochenschrift2 sehr treffend zusammengefasst, wo wir im Vergleich zu anderen klinischen Fächern in ganz anderen Zeitrahmen und Kontexten arbeiten. Unsere Arbeit ist geprägt von:
Dafür benötigen wir einen etwas anderen Zugang und eine durchaus andere Methodik in der Herangehensweise an die Probleme unserer Patient:innen:
Für uns Allgemein- und Familienmediziner:innen reicht es nicht, ein umfassendes medizinisches Wissen zu erlangen, wir eignen uns auch Kompetenzen und Wissen aus anderen Berufen und Disziplinen an, wir lernen durch unsere interprofessionelle Zusammenarbeit in Netzwerken und mit anderen Berufen täglich Neues dazu – Dinge, die unsere medizinische Ausbildung (bisher) nicht abgedeckt hat. Wir nehmen uns aus den anderen Fachdisziplinen Bausteine und Puzzleteile mit, die wir je nach Bedarf in unsere Arbeit integrieren, weiterentwickeln und verfeinern. Wir fordern und fördern durch unsere Betreuung auch die Kompetenz der anderen Gesundheitsberufe. Wir benötigen für ein gutes Arbeiten Wissen und Erfahrung aus den Bereichen der Psychologie, Verhaltenstheorie und Soziologie, und wir müssen „kleine Expert:innen“ unseres unmittelbaren Umfeldes sein – welche Ressourcen gibt es vor Ort, in der Nähe und im Gesundheitssystem, und wie schaffen wir es, gemeinsam mit den anderen Berufen und Personen rund um unsere Patient:innen herum das bestmögliche für sie, ihre Familien und ihre Gesundheit und somit auch für die Gesellschaft zu erreichen? Dabei anerkennen wir die Tatsache, dass es isolierbare Aspekte, aber nie eine isolierte Herausforderung gibt. Wir betreuen auch in anderen Dimensionen: Arbeitet man im Krankenhaus, so hat man bereits das Gefühl, man kenne Patient:innen besser, die länger als die durchschnittlichen 3–5 Tage auf einer Station bleiben müssen – bereits sie sind uns vertrauter.
Punktuelle Kontakte in den Notaufnahmen sind wie aufblitzende Lichter vorbeifahrender Autos in der Nacht – wir wissen nicht, woher sie kommen und was am Ende aus ihnen wird.
Wir in der Allgemein- und Familienmedizin sind die „Marathonläufer:innen“ – wenn nicht gar die „Iron-Man-Triathlet:innen“ – denn wir wechseln zwischen den Fragestellungen, zeitlich parallel wie sequenziell, und sind selbst trotzdem dieselbe betreuende Person oder dasselbe betreuende Team bis hin zu Jahrzehnten. Diese Kontinuität in der Versorgung – nicht einzelner Erkrankungen, sondern ihrer Besitzenden in allen Dimensionen – kann die Morbidität und Mortalität verringern und ist auch von Seiten der Patient:innen gewünscht.3 Letzten Endes auch, weil diesseits das Vertrauen (und unsererseits die entsprechende professionelle Haltung in der Arzt-Patienten-Beziehung) besteht, weil wir wissenschaftliche Erkenntnisse und das breite verfügbare Wissen in vielen Dimensionen auf die individuelle Ebene „herunterbrechen“ bzw. in einem umfassenden Ansatz das verfügbare Wissen (die verfügbare Evidenz) in die personenzentrierte Versorgung integrieren und gleichzeitig auch die vorhandenen Sorgen und Emotionen, Ängste und Hoffnungen der Patient:innen wahrnehmen, reflektieren und sie nicht nur durch gesundheitliche, sondern damit verbunden auch emotionale Herausforderungen begleiten (und Letztere sind ja nicht zwingend an körperliche Erkrankungen gebunden – wo wir wieder bei McWhinney wären: „In vielen Fällen wird die Betreuungsvereinbarung bereits zu einem Zeitpunkt eingegangen, an dem die Person gesund ist – bevor sich ein Problem entwickelt.“).
Als solches ist es zu verstehen, dass sich die Hoffnung der jungen und jüngsten Generation von Allgemein- und Familienmediziner:innen darauf stützt, mit der Anerkennung des Faches auch eine verbesserte und neue Ausbildung zu bekommen, die sie mehr und effizienter auf ihre zukünftige berufliche Karriere vorbereitet. Betrachtet man die derzeitige Lage des österreichischen Gesundheitssystems und vor allem der hausärztlichen Primärversorgung, ist es höchste Zeit, eine Ausbildung zu schaffen, die jungen Kolleg:innen das Selbstbewusstsein und das Wissen gibt, in diesem Beruf zu arbeiten. Freilich haben wir in allen medizinischen Fächern und Fachdisziplinen komplizierte Fragestellungen und komplexe Aufgaben zu bewältigen, der Tatsache, dass unser Beruf aber eine „andere Komplexität“ und ganz andere Nuancen hat – die ebenfalls ihr eigenes Fachwissen brauchen –, muss endlich Rechnung getragen werden. Sonst werden wir uns in Österreich weiter von einer nachhaltigen hausärztlichen Primärversorgung hin zu einer „(notdürftigen!?) medizinischen Grundversorgung“ bewegen, deren Evidenz für eine reduzierte Morbidität wie Mortalität erst gefunden werden muss.
Heinrich
Heinrich ist 76 Jahre alt. Seine Eltern sind als Knecht und Magd auf diesem Bauernhof aufgewachsen, irgendwann waren sie „halt als was anderes am Hof geblieben“ (Landarbeiter), die Mutter hat sich selbst als „die alte Magd“ bezeichnet – er ist als Teil dieses Bauernhofes und der Familie dort aufgewachsen und mit der Mutter und danach auch weiter im kleinen Häuserl am Hof geblieben. Er hat dort immer gearbeitet – zufrieden. Er sei immer einfachen Gemütes gewesen, die Volksschule hat er mit Ach und Krach bestanden, also hat das gepasst. Mit den Bauernkindern war er immer gut Freund, als wären sie Verwandte. Um seine Eltern liegt ein Rätsel – als seine Mutter mit ihm schwanger wurde, bereits 42 Jahre alt, wurde der deutlich jüngere Vater „vom Hof gejagt“ – was mit dem dann passiert sei, wisse niemand. Das Warum haben seine Mutter und die alten Bäuer:innen mit ins Grab genommen. Die jetzigen Besitzer:innen des Hofes haben ihm Wohnrecht fürs Häuserl gegeben. Er sieht schlecht, geht schlecht und kann nicht mehr arbeiten. Seinen Blutzucker hat er „schon ewig“, der Herzinfarkt vor 8 Jahren „war auch kein Geschenk“. Er hat immer am Hof gearbeitet und geholfen, wo es ging, seine Pension ist klein. Zuletzt war es seine Aufgabe, vor dem Haus zu sitzen und auf die Hofkinder aufzupassen sowie die Lamperln und die kleinen Sauen zu füttern. Er hat keinen Führerschein und kommt seit 5 Jahren kaum mehr vom Hof, sein Klumpfuß hindert ihn daran. Traktorfahren traut er sich seit dem Herzinfarkt nicht mehr. Die Bäuer:innen kaufen für ihn mit ein, die Bäuerin kocht für ihn mit. Alle nennen ihn „Öhi“, die jetzige Bäuerin hat ihn als Kind so getauft, nachdem er ihr Heidi vorgelesen habe. Man kennt ihn auch nur mehr unter dem Namen „im Dorf unten“. Mit seinem Leben ist er zufrieden, Medikamente mag er keine nehmen. Zuletzt wurden aber seine Augen schlechter, und vor kurzem ist er einmal einfach so umgefallen. Weil der alte Blutdruckmesser nur mehr einen „Error“ ausgespuckt hat, hat er – selbst ohne Telefon – gebeten, dass man ihm die Doktorin ruft, damit einmal doch nachgeschaut wird, was los ist. Einen zweiten Herzinfarkt mag er nicht haben. Zum Internisten geht er aber sicher nicht. Braucht er auch nicht, wenn er nicht will – zwingen kann man ihn nicht, und lässt er sich nicht. Eine Woche später hat er eine Blutverdünnung wegen dem Vorhofflimmern und ein „bisserl einen Betablocker“ sowie sein altes Metformin wieder (bei einem HbA1c von 10,8 %), zu mehr war er nicht zu überreden. Aber einmal im Monat werden ab jetzt die Verhandlungen bei den Visiten weitergeführt – was man denn sonst noch für seine Gesundheit tun dürfe. Als Gegenleistung gibt’s frische Eier für die Ordination. Die Bauernfamilie ist erleichtert, dass der Öhi jetzt wieder „ein bisserl a Anbindung an die Frau Doktor“ hat.
Angelika
Angelika hatte 2005 bei einem Motorradunfall eine Oberschenkelfraktur und Prellungen am ganzen Körper erlitten – „von oben bis unten ein einziger blauer Fleck“ steht in den Aufzeichnungen dazu in der Kartei. Bis 2014 hatte sie mehrere Fehlgeburten, neben der fachärztlichen Abklärung bedarf es hier auch der kontinuierlichen hausärztlichen Begleitung (nicht nur physisch). Endlich kommt ein Mädchen zur Welt, 6 Jahre später Beziehungsprobleme und Gastritis, Gewichtszunahme – als Folge der zu Herzen genommenen Lebensstiländerung hin zu einer gesünderen Ernährung und mehr Bewegung kommt es zu einem Sportunfall mit Achillessehnenruptur und Kreuzbandriss. Angelika lernt mich als Vertretungsärztin kennen. Nach Begleitung durch ein Jahr voller Herausforderungen rund um den Bewegungsapparat verliert sich der Kontakt wieder, 2022 kommt ein Arztbrief in meine Ordination „geflattert“, auf dem ich als Hausärztin eingetragen bin – offensichtlich aktiv, ich bin gerade erst 2 Monate als Kassenärztin selbst in der Ordination. Darauf findet sich die Diagnose Brustkrebs, die Patientin kommt jedoch nicht in die Ordination, aber weitere Briefe. Ich vermute darin eine stumme Erneuerung des Betreuungsverhältnisses. Erst rund 8 Monate später kommt Angelika selbst – seitdem in regelmäßigen Abständen. Die laufende Hormontherapie bedeutet für sie zunehmende Beschwerden: Gewichtszunahme trotz verzweifelter Bemühungen, nicht zuzunehmen, permanentes Knochenziehen, Schmerzen im Bereich der alten Frakturen und Verletzungen. Die Gesamtsituation – alleinerziehend mit einer 10-jährigen Tochter und einem zerbrochenen Verhältnis zu ihrem „Ex“ sowie Zukunftsängste – ist zusätzliche Belastung. Die Hoffnung auf einen neuen Partner wurde mit der Diagnose subjektiv begraben – derzeit zählen die Parole „durchhalten“ und das Gefühl, für die Tochter überleben zu wollen.
Peter und Maria
Peter und Maria werden seit 1989 durch meinen Vater und jetzt durch mich betreut. Peter ist mittlerweile 46 Jahre alt, seine Mutter Maria 81 – bald 82. Sein Vater ist bereits vor Jahren verstorben, am Ende war er multimorbid, von Krankheit gezeichnet und dement. Seine Aggressionen und sein gewalttätiges Verhalten hat der Vater behalten, auch wenn er es am Ende nicht mehr tätlich und ganz zum Schluss auch nicht mehr verbal ausleben konnte – Peter habe sich immer vor den wütenden Augen des Vaters gefürchtet. Zumindest erzählt mir Maria das bei meinem letzten Hausbesuch, bei dem sie Sorge äußert, genauso rollstuhlgebunden, unfähig und speichelnd in der Küche zu sitzen wie früher ihr Mann – und niemanden zu haben, der/die sich um sie kümmern würde. Als junger Erwachsener wurde Peter polizeilich des Elternhauses verwiesen, da er den Eltern gegenüber gewalttätig wurde. Die Mutter durchlitt Jahrzehnte lang still ihr Leid – Ausländerin, in der Familie ihres Mannes als Fremdkörper wahrgenommen und als Alibi für eine jahrzehntelange zu Hause ausgelebte Homosexualität benutzt, von der niemand wissen durfte. Dennoch hat sie ihren Mann bis zum Ende gepflegt. Seit der Mann gestorben ist und Peter aus einer betreuten Einrichtung wieder zurück ist, leben die beiden allein in der alten Wohnung. Peter hat eine komplexe psychiatrische Polymedikation, die ihn in seinem Verhalten stabil halten soll –, im Laufe der Zeit hat er einiges an Psychiatrieerfahrung gesammelt. „Das macht man halt“ mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus mit Zwängen und einem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Irgendwo am Weg bis heute kam es auch zu einer Erwachsenenvertretung für Peter. Die letzten Jahre haben Peter und seine Mutter gemeinsam so etwas wie Stabilität erlangt. Peter ist mit seinem derzeitigen Leben zufrieden – er sieht seinen Waschzwang und seine schwallartigen Lautausbrüche im Rahmen seiner Tics, welche die Mutter tagtäglich geduldig abwarten muss, nicht als Problem. Die Mutter selbst sagt, sie hätte sich an diese Eigenheiten gewöhnt und ausreichend Zeit zu warten. Anlass für den Hausbesuch ist die Bitte der Mutter – sie ist jetzt mehrfach gestürzt, einmal mit Bewusstlosigkeit. Sie merkt selbst: Jetzt ist sie alt. Kognitiv wird sie schlechter, ihre Mobilität nimmt ab, die Zahl ihrer gesundheitlichen Probleme rapide zu. Seit kurzem hat sie auch beschlossen, nicht mehr Auto zu fahren (nach vielen Gesprächen, wo es darum ging, dass sie es auch nicht mehr sollte). Doch jetzt, wo das Auto stehen bleibt, fehlt Peter auf einmal die Freiheit, denn er konnte in dieses Auto trotz all seiner Probleme einsteigen. „Es war ja nie ein Problem – ich hab der Mutter ja schon seit Jahren beim Fahren geholfen“, sagt er. Busfahren ist eine Herausforderung, die er meistens nicht schafft. Dass er manchmal bis zu 45 Minuten eine Wasserflasche in die Luft wirft und wieder auffängt, bevor er in das vertraute Auto einsteigt, war für seine Mutter früher nie ein Problem – sie hat das einfach miteingerechnet, die Tics abgewartet. Jetzt hat sie selbst nicht mehr ausreichende Reserven, um dieses Problem in den Alltag zu integrieren. Externe Hilfsdienste haben dafür keine Zeit. Die letzten Male kamen Peter und Maria zu den von ihnen aus terminisierten Ordinationsbesuchen zu spät bzw. gar nicht mehr. Aber das wiederum ist kein Problem, diesmal haben wir einen Hausbesuch vereinbart – wahrscheinlich einen von mehreren in Zukunft. Maria macht sich Sorgen, wie sie beide in Zukunft versorgbar wären. Gemeinsam zerbrechen wir uns also nun den Kopf, wie wir mit dem kaum vorhandenen Geld ihre Versorgung in ein Auffangnetz einbetten können, das in naher Zukunft einspringen kann. „Ich kann nicht mehr lange“, sagt sie selbst. Die letzte Visite findet auch im Beisein eines Betreuers des psychosozialen Dienstes statt, damit er die Situation zu Hause erlebt, der letzte Telefonkontakt mit Peter war fruchtlos verlaufen. Peter lehnt aber die Unterstützung weiterhin ab. Seine Mutter ist darüber traurig und bittet, dass die Betreuung trotzdem begonnen werden könnte – das Argument, „wenn der Klient selbst nicht will, dann ist die Betreuung nicht möglich“, bleibt offen am Tisch. Für die Betreuung der Mutter ist altersbedingt ein anderes Team zuständig, man könne diesem aber den Bedarf weiterleiten.