ELGA: ist ein neues Haftungsrecht notwendig?

Die Elektronische Gesundheitsakte (ELGA) ist Realität. Zahlreiche Wiener und steirische Krankenanstalten sind bereits „angeschlossen“, schrittweise nähert man sich der Endausbaustufe: Der Arzt (Apotheker) soll ELGA konsultieren können, um an relevante Gesundheitsdaten des Patienten zu gelangen.
Dies führt nicht zu ungeteilter Freude in der Ärzteschaft und bei Patienten, sondern ruft auch Irritationen hervor, wie sich jüngst am Ausstieg der Ärzte aus dem Probebetrieb der E-Medikation in Deutschlandsberg zeigt. In der Folge wird daher die Funktionsweise der Gesundheitsakte erläutert, außerdem wird der Frage nachgegangen, ob ELGA wirklich „neues Haftungsrecht“ bringt, wie manchmal befürchtet wird.

Worum geht es?

Damit der Arzt seine Pflichten erfüllen kann, benötigt er einschlägige Informationen. Er muss über bestimmte Vorerkrankungen Bescheid wissen, um die richtige Therapie zu verschreiben, Information über den Medikationsstatus des Patienten kann notwendig sein, um Wechselwirkungen zu vermeiden usw.
An diesem Punkt wird ELGA relevant: Der Arzt kann die Akte konsultieren, um an relevante Gesundheitsdaten des Patienten zu gelangen. Was bedeutet das für ihn? Darf er ELGA konsultieren oder muss er dies tun? Anders gefragt: Haftet er, falls er es nicht tut?

Wie funktioniert ELGA?

Zunächst zur Funktionsweise von ELGA: Ein Informationssystem, das – unter anderem – Ärzten Zugang zu wichtigen Gesundheitsdaten wie Befunden und Medikationsdaten des Patienten geben soll, hat offensichtliche Vorteile: Dass es Gesundheitsschäden vermeiden hilft, wenn der Arzt z.B. nachprüfen kann, ob er gerade ein Medikament verschreibt, das Wechselwirkungen mit einem bereits verschriebenen Medikament aufweist, lässt sich nicht bestreiten. Ebenso unbestreitbar ist, dass es Krankenkasse und Patient Geld spart, wenn Doppelbefunde vermieden werden.
Dennoch ist ELGA auf heftigen Widerstand – vor allem aus den Ärztekammern – gestoßen. Die Diskussion um die Einführung von ELGA ist allerdings Geschichte: Ende 2012 wurde ELGA vom Gesetzgeber beschlossen. Was verbirgt sich nun dahinter?
ELGA ist ein elektronisches Informationssystem, das Ärzten, Apothekern und anderen Dienstleistern im Gesundheitswesen ermöglicht, relevante Gesundheitsdaten von Patienten abzurufen. Auch der Patient hat auf seine Gesundheitsdaten Zugriff. Es geht dabei um Entlassungsbriefe von Krankenanstalten, Laborbefunde, Befunde der bildgebenden Diagnostik (z.B. Röntgen, CT, MRT) und Medikationsdaten des betroffenen Patienten. Daneben werden zu einem späteren Zeitpunkt auch Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten der Patienten aufgenommen.
Wer kann nun welche Daten einsehen? Der Gesetzgeber hat eine kluge Entscheidung getroffen: Selbstverständlich hat nicht jeder auf alles Zugriff: Während z.B. Ärzte und Krankenanstalten alle Gesundheitsdaten ihrer Patienten einsehen dürfen, sind etwa die Zugriffsrechte von Apotheken auf Medikationsdaten des Kunden beschränkt. Auch Zahnärzte haben keinen unbeschränkten Zugriff und können z.B. keine Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten einsehen oder Informationen über Medizinprodukte (z.B.: Patient hat Herzschrittmacher) abrufen.
Dem Ziel, alle relevanten Gesundheitsdaten durch ELGA zu erfassen, kann – natürlich – nur durch eine Speicherverpflichtung Rechnung getragen werden. Jeder Gesundheitsdiensteanbieter hat „seine“ Daten zu speichern: Entlassungsbriefe müssen von Krankenanstalten gespeichert werden, Laborbefunde sowie Befunde der bildgebenden Diagnostik durch (jeweils einschlägige) Fachärzte und Krankenanstalten im Rahmen ambulanter Behandlung, Medikationsdaten durch Ärzte bei der Verordnung bzw. durch Apotheken bei der Abgabe von Medikamenten usw.
Diese Verpflichtung trifft allerdings nicht alle Gesundheitsdiensteanbieter: Ärzte, die in keinem Vertragsverhältnis zu einem Sozialversicherungsträger stehen, müssen ELGA-Gesundheitsdaten nämlich nicht speichern („ELGA-freie Ärzte“).
Der Zugriff auf ELGA-Gesundheitsdaten wird in der Praxis vor allem über die e-Card ermöglicht, die als Schlüssel zu den Gesundheitsdaten wirkt. Die e-Card öffnet den Zugang zeitlich befristet. In der Regel haben Gesundheitsdiensteanbieter 28 Tage (ab dem Stecken der e-Card) Zugriff auf die Daten, Apotheken hingegen nur zwei Stunden. Nach Ablauf können die Patientendaten nicht mehr eingesehen werden.

Opt-out-Rechte der Patienten

Die datenschutzrechtliche Zulässigkeit einer Elektronischen Gesundheitsakte, der sich der Patient nicht entziehen kann, wurde kritisch gesehen. Man diskutierte daher weniger die Frage, ob die Patienten ihre Teilnahme an der ELGA regeln können sollen, sondern vielmehr, wie eine solche Regelung aussehen könnte. Der Gesetzgeber hat sich für eine „Opt-out-Lösung“ entschieden: Jedermann kann jederzeit entscheiden, an ELGA nicht teilnehmen zu wollen.
Neben dieser Möglichkeit zum generellen Widerspruch kann der Patient aber auch in zweifacher Weise an seiner ELGA „herumbasteln“. Er kann erstens einzelne Gesundheitsdaten (Befunde über Vorerkrankungen, verschriebene Medikation, vorgenommene Eingriffe usw.) in ELGA löschen oder ausblenden. Zweitens kann der Patient die Dauer der Zugriffsberechtigungen (28 Tage, 2 Stunden) nach Belieben verkürzen.
Konsequent wird angeordnet, dass der Patient nicht nur im Nachhinein Daten löschen oder ausblenden kann, sondern dass auch die Möglichkeit besteht, der Aufnahme von Gesundheitsdaten im Vorhinein zu widersprechen. Bei besonders heiklen Daten (z.B. HIV-Infektion, psychische Erkrankung, Schwangerschaftsabbrüche) ist der ELGA-Teilnehmer über dieses Recht sogar zu informieren.
Das alles ist dem Ziel der ELGA – verlässliche Information über die Krankengeschichte des Patienten – selbstverständlich abträglich, erklärt sich aber aus der Gewährleistung des Datenschutzes.
Datenschutzrechtliche Erwägungen erklären auch, dass jeder Zugriff auf ELGA streng dokumentiert wird. Es lässt sich also im Nachhinein feststellen, ob der Arzt Einsicht in ELGA genommen hat, wann er Einsicht genommen hat, welche Daten er geprüft hat usw. Das hat Bedeutung für die Haftungsfrage, weil die Beweisposition des Patienten durch die umfassende Dokumentation natürlich gestärkt wird.

Bewertung von ELGA

ELGA ist ein ambitioniertes technisches Mammutprojekt. Die Einführung der Gesundheitsakte war aber auch inhaltlich ein praktisch bedeutender Wurf. Zwar konnte der Arzt natürlich auch davor schon an relevante Daten seines Patienten kommen. Überweist der Hausarzt den Patienten z.B. zwecks Blutuntersuchung an einen einschlägigen Facharzt, bekommt er den Befund von dort. ELGA ist aber revolutionär, was die Art der Kommunikation betrifft: ELGA ist ein System, das orts- und zeitunabhängige, also „ungerichtete“ Kommunikation erlaubt. Die bei „gerichteter“ Information häufigen Doppelgleisigkeiten und Fehler, die auf mangelnder Vorinformation beruhen, können vermieden werden. Man sagt daher zu Recht, dass ELGA ein Schritt in Richtung „Patientenzentrierung“ im Gesundheitssystem ist.

Arzthaftung

Von Anfang des Projekts an wurde vermutet, dass die völlige Neuausrichtung der Informationskanäle im Gesundheitswesen Auswirkungen auf die Arzthaftung haben würde. Tatsächlich wurden solche Vermutungen – besser: Befürchtungen – in der Ärzteschaft geäußert: ELGA bringe neues Haftungsrecht.
In diesem Punkt muss man zunächst beruhigen: Tatsächlich ordnen die relevanten Rechtsgrundlagen kein neues Haftungsrecht an, sondern sie verweisen auf die anerkannten Regeln des Arzthaftungsrechts. Das wirft verschiedene Fragen auf: Muss der Arzt in die Elektronische Gesundheitsakte Einsicht nehmen?
Der Arzt muss zwar die notwendigen Informationen beschaffen. Wie er das tut, ist aber seine Sache. Er muss die Informationen nicht zwingend über ELGA abrufen. Primäre Quelle ist das Gespräch mit dem Patienten, und das soll auch nach ELGA so bleiben.
Allerdings ist zu bedenken, dass die Beschaffung von zusätzlichen, allein durch das Gespräch nicht zu ermittelnden Informationen – Befunde, Medikationsdaten usw. – durch ELGA nun einfacher ist. Da die Pflicht zur Informationsbeschaffung auch von der Zumutbarkeit der Suche abhängt, führt ELGA zu einer Qualitätssteigerung im Gesundheitssektor: Was vor ELGA vielleicht sehr aufwändig und damit nicht geschuldet war, kann nach ELGA durchaus Teil des Pflichtenprogramms sein.
Die Informationsbeschaffung mittels ELGA ist außerdem verlässlicher als die mündliche Auskunft des Patienten. Das beste Beispiel sind Medikationsdaten: Informationserteilung durch den Patienten ist hier oft unsicher, verlässliche Auskunft über die aktuelle Arzneimitteltherapie wird durch ELGA hingegen gewährleistet sein.
Das führt zur zweiten Frage: Kann sich der Arzt auf die Aussagen seines Patienten verlassen?
Die Antwort lautet: Der Arzt kann sich auf die Patientenaussage verlassen, außer ihm muss erkennbar sein, dass die Informationen eventuell nicht stimmen, etwa weil der Patient nicht die nötige Sachkunde hat oder seine Auskünfte nicht stimmig wirken. In diesem Fall muss er ELGA konsultieren.
Es lässt sich aber auch die umgekehrte Frage stellen: Kann sich der Arzt auf die Elektronische Gesundheitsakte verlassen?
Der Arzt kann sich selbstverständlich auf die Richtigkeit der Angaben in der ELGA verlassen. Anders sieht es allerdings mit Blick auf die Vollständigkeit der dort enthaltenen Daten aus: Die Wahrnehmung der Patientenrechte – also das Ausblenden und Löschen von Daten – darf den ELGA-Gesundheitsdiensteanbietern zu keiner Zeit ersichtlich sein. Der Arzt hat also eine unvollständige Gesundheitsakte, ohne dass er auf diesen Umstand aufmerksam gemacht wird! Das ist zwar unerfreulich, aber auch unvermeidbar und sachgerecht: Den Nachteil, den der Patient aus dem Informationsmangel hat, trägt nämlich ohnehin er.