Enuresis – ein Update

Einleitung und Definition: Einnässen beziehungsweise unwillkürlicher Urinverlust wird allgemein als Harninkontinenz bezeichnet. Dies stellt im Kindesalter ein großes Problem für den Patienten und die Familie dar und bedarf einer multidisziplinären Betreuung und Therapie. Nach Ausschluss von strukturellen Anomalien des Harntrakts und neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen spricht man ab dem 5. Lebensjahr von nichtorganischer (funktioneller) Harninkontinenz.

Die ICCS (International Children’s Conti­nence Society) hat in internationalem und interdisziplinärem Konsens im Jahr 2006 die Terminologie der Funktionsstörungen des unteren Harntrakts mit dem Symptom „Harninkontinenz“ standardisiert.1–3 Die deutschen Leitlinien haben 2015 eine gute Zusammenfassung erstellt und helfen, die korrekte Nomenklatur zu verwenden.4
Eine intermittierende Harninkontinenz nach Ausschluss organischer Ursachen bei einem chronologischen Alter von mindestens 5,0 Jahren soll als Enuresis (optional Enuresis nocturna) im Schlaf, also auch beim Mittagsschlaf, und/oder als nichtorganische (funktionelle) Harn­inkontinenz (am Tage) bezeichnet werden. Als Störung soll die Enuresis erst dann bezeichnet werden, wenn sie mindestens einmal pro Monat über eine Dauer von 3 Monaten aufgetreten ist. Bei der Enuresis (nocturna) sollen vier Formen unterschieden werden – je nachdem ob Symptome einer Blasendysfunktion vorliegen oder nicht (monosymptomatisch und nicht monosymptomatisch) und je nach Länge des längsten trockenen Intervalls (primär und sekundär, wenn schon einmal6 Monate Trockenheit war) (Abb.).

 

 

Epidemiologie: Die Prävalenz der Enuresis im Alter von7 Jahren liegt bei 7 und 13 %, Buben sind doppelt so häufig betroffen. Etwa 25 % der Kinder zeigen sekundäre Enuresis.5 Monosymptomatische Enuresis macht zwei Drittel der Fälle aus.6 Im Alter von 10 Jahren nässen noch etwa 5 % der Kinder nachts ein, im Alter von 16–17 Jahren sinkt die Prävalenz auf 0,5–1,1 %. Die Spontanremissionsrate liegt bei etwa 15 %/Jahr.7 Von einer gemischten Enuresis und Inkontinenz tagsüber sind Mädchen häufiger betroffen. Nur etwa ein Drittel der betroffenen Patienten nimmt die Hilfe von medizinischen Institutionen in Anspruch.8
Verschiedene Differenzialdiagnosen zur nichtorganischen (funktionellen) Harninkontinenz müssen ausgeschlossen werden. Dazu gehört die physiologische Harninkontinenz, die einem Reifungsprozess unterliegt. Die typische Reihenfolge ist: erst Erwerb der Stuhlkontinenz, dann Harnkontinenz tagsüber und zuletzt Harnkontinenz nachts.
Die organische Harninkontinenz umfasst strukturelle Anomalien des Harntrakts. Hier sind vor allem die posterioren Harnröhrenklappen beim Knaben, Epispadien, Blasenekstrophien, Kloakenfehlbildungen und anorektale Malformationen zu nennen. Ständiges Harnträufeln bei Mädchen weist auf einen ektop mündenden Ureter hin. Neurogene Blasenentleerungsstörungen (Spina bifida) können ebenso zu Inkontinenz führen wie Polyurie und Polydipsie (Diabetes insipidus).

Monosymptomatische Enuresis nocturna (MEN)

Unbeabsichtigte, meist vollständige Blasenentleerung während des Schlafes, wobei die Blasenfunktion in Füllungs- und Entleerungsphase normal ist. Burschen sind häufiger betroffen (etwa 60 : 40 %). Wenn ein Elternteil Enuretiker war, liegt die Wahrscheinlichkeit beim Kind bei 44 %; sind beide Eltern betroffen, steigt sie auf bis zu 77 %. Dementsprechend konnten auf den Chromosomen 12, 13 und 22 ursächliche Gene beschrieben werden.9 Drei Ursachen der Enuresis werden diskutiert: Arousal-Defizit mit tiefem Schlaf und erschwerter Erweckbarkeit, mangelnde zentrale Hemmung des Detrusors in der Nacht und eine nächtliche Polyurie. Komorbide psychische und psychosoziale Faktoren (vor allem ADHS) sind wichtig.10

Nichtmonosymptomatische Enuresis nocturna (non-MEN)

Hier finden sich neben dem nächtlichen Einnässen auch tagsüber Symptome der Blasenentleerungsstörung (überaktive Blase, Pollakisurie, kleine Blasenkapazität, Drang et cetera). Falls das Kind tags und nachts einnässt, erhält es in diesen Fällen zwei Diagnosen: „Inkontinenz am Tage“ und „Enuresis“. Es kann sich auch um einen habituellen Miktionsaufschub handeln. Wenn Kinder tagsüber zu wenig trinken, kann es trotz zu geringer Blasenkapazität und/oder Drangsymptomatik sein, dass die Miktionsfrequenz tagsüber normal erscheint!

Diagnostik: Zur Basisdiagnostik gehören Anamnese/Fragebogen und Miktionsprotokoll, Suche nach psychischen Symptomen, Harn- und körperliche Untersuchung (Phimose, Wirbelsäule, Adenoide) sowie Sonografie der Niere, Blase und des Rektums mit Restharnbestimmung.
Eine weiterführende Diagnostik wie Uroflowmetrie mit Beckenboden-EMG und fakultativer Miktionsbeobachtung ist bei monosymptomatischer Enuresis nicht nötig und sollte nur bei non-MEN überlegt werden. Invasive kinderurologische Diagnostik wie Miktionszystourethrografie (MCU) und videourodynamische Untersuchung bleibt der neurogenen Blasenentleerungsstörung vorbehalten. Eine psychologische Vorstellung muss individuell entschieden werden.

Therapie bei Enuresis und nichtorganischer(funktioneller) Harninkontinenz

Zuerst erfolgen allgemeine Empfehlungen, Toilettentraining und Urotherapie. Obstipation muss immer zuerst behandelt werden. Manifeste, klinische psychische Störungen (ADHS) sollten zusätzlich therapiert werden. Liegt eine non-MEN vor, muss auch in diesen Fällen zuerst die Tagessymptomatik behandelt werden. Zuletzt wird die Enuresis nocturna behandelt.
Allgemeine Urotherapie beinhaltet Information und Entmystifizierung, Instruktionen zum optimalen Miktionsverhalten mit rascher Entleerung der Harnblase (möglichst entspannt im Sitzen, warme, einladende, saubere Toilette „ohne Monster“). Instruktionen zum Trink- und Ernährungsverhalten: 7 Becher 150–200 ml trinken (40–50 ml/kg), möglichst zuletzt 2 Stunden vor dem Schlafengehen trinken. Dokumentation von Symptomatik und Miktionsverhalten: 5–7-mal täglich Miktion, Sonne-Wolken-Regen-Kalender sowie regelmäßige Betreuung und Unterstützung. Die „Standard-Urotherapie“ wurde von der ICCS eingeführt.1 Spezielle Urotherapie bleibt der non-MEN vorbehalten. Dazu gehören Beckenbodentraining, Biofeedback, Elektrostimulation, intermittierender Selbstkatheterismus (ISK) und apparative Verhaltenstherapie (AVT).

Conclusio

Enuresis ist erst ab 5 Jahren abklärungs- und therapiebedürftig. Die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten ist essenziell. Erheben einer Anamnese, Beginn einer Verhaltenstherapie, das Erstellen eines Miktionsprotokolls plus Auswertung, Einleiten einer Obstipationstherapie (zum Beispiel mit PEG 4000) und eventuell auch schon der erste Schritt einer medikamentösen Therapie sind für alle Beteiligten hilfreich.
Die Häufigkeit des nächtlichen Einnässens ist der wichtigste prognostische Faktor. Erst dann sollte die Zuweisung zum Spezialisten (Kinderurologe, Kinderchirurg) erfolgen, der sich um Therapieversager und um Ausschluss von Anomalien und Blasenfunktionsstörungen kümmert. Die Guidelines der EAU können online zur Unterstützung hinzugezogen werden.11

Am 29. Mai 2018 ist „Internationaler Tag des Bettnässens“

Literatur:

1 Neveus T et al., J Urol 2006; 176(1):314–24

2 Franco I et al., J Pediatr Urol 2013; 9(2):234–43

3 Neveus T et al., J Urol 2010; 183(2):441–7

4 Kuwertz-Bröking E, von Gontard A, Enuresis und nichtorganische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen 2015: AWMF-Register Nr. 028/026. S2k

5 Robson WL, Leung AK, Clin Pediatr (Phila) 2000; 39(7):379–85

6 Butler RJ, Heron J, Scand J Urol Nephrol 2008; 42(3):257–64

7 Swithinbank LV et al., Acta Paediatr 2010; 99(7):1031–6

8 Butler RJ et al., BJU Int 2005; 96(3):404–10

9 von Gontard A et al., J Urol 2011; 185(6):2303–6

10 Vande Walle J et al., Br J Gen Pract 2017; 67(660):328–9

11 Tekgül S et al., EAU-Guideline Paediatric Urology. 2017

In Kooperation mit dem Fachmedium Spectrum Urologie