Der wissenschaftliche Begriff Burnout bezieht sich speziell auf Phänomene im beruflichen Kontext und sollte nach Empfehlung der WHO nicht zur Beschreibung von Erfahrungen in anderen Lebensbereichen verwendet werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich für Burn-out aber gerade das Gegenteil herausgebildet: Der Begriff ist zum Ausdruck für ein breites Spektrum an psychischen Störungen geworden, wobei es den Betroffenen besonders wichtig ist, dass es nicht als „Charakterschwäche” gesehen wird.
„Wichtig werden sinngebende Tätigkeiten und die Erfahrung von Selbsteffizienz, um die Handlungsmotivation zu steigern.“
Mit dem Begriff der Neurasthenie (F48.0), also Nervenschwäche, wurde in der Medizin eine Entität gefasst, die kulturell unterschiedlich aufgefasst wurde.
Bei einer Form der Neurasthenie ist das Hauptcharakteristikum die Klage über vermehrte Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen, häufig verbunden mit abnehmender Arbeitsleistung oder Effektivität bei der Bewältigung täglicher Aufgaben. Die geistige Ermüdbarkeit wird typischerweise als unangenehmes Eindringen ablenkender Assoziationen oder Erinnerungen beschrieben, als Konzentrationsschwäche und allgemein ineffektives Denken.
Bei der anderen Form liegt das Schwergewicht auf Gefühlen körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung begleitet von muskulären und anderen Schmerzen und der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Das heißt, es sind eher soziale Faktoren, die den Schwerpunkt der Beschwerden auslösen. Bei Arbeit, die körperliche Kraft voraussetzt, wird vor allem die körperliche Schwäche als dysfunktional erlebt, bei geistiger Tätigkeit vor allem die Konzentrationsschwäche.
Bei beiden Formen finden sich eine ganze Reihe von anderen unangenehmen körperlichen Empfindungen wie Schwindelgefühl, Spannungskopfschmerz und allgemeine Unsicherheit. Sorge über abnehmendes geistiges und körperliches Wohlbefinden, Reizbarkeit, Freudlosigkeit, Depression und Angst sind häufig. Der Schlaf ist oft in der ersten und mittleren Phase gestört, es kann aber auch Hypersomnie im Vordergrund stehen.
Die Empfehlung, dass eine vorausgegangene Krankheit angegeben werden soll, bringt die Verbindung zu „Long COVID“. Schon alleine die Überlappung der Symptombereiche zwischen Long COVID und Neurasthenie ist auffällig. Long COVID beschreibt gesundheitliche Langzeitfolgen nach einer COVID-19-Erkrankung. Häufige Symptome sind zum Beispiel Erschöpfung, verminderte Leistungsfähigkeit sowie Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme. Nur die Kurzatmigkeit kommt bei Neurasthenie nicht prominent vor, wenn auch multiple körperliche Symptome beschrieben werden.
Long COVID umfasst eine langanhaltende COVID-19-Erkrankung (ab 4 Wochen Symptomdauer) und das sogenannte Post-COVID-Syndrom (ab 12 Wochen Symptomdauer). Immunologische Faktoren spielen auch bei psychischen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Die Immunhypothese der Depression geht davon aus, dass Immunreaktionen, die zur Abwehr einer Infektion geeignet sind, eine „Sickness“-Reaktion auslösen, die mit sozialem Rückzug, körperlicher Schonung eine soziale und eine individuelle Schutzfunktion haben. Der soziale Rückzug schützt andere vor Ansteckung und das Schonverhalten ermöglicht dem Immunsystem die Ressourcen für die Abwehr der Krankheitserreger zu bündeln. Mit Verstärkung und Verlängerung der Krankheitsphase und Abklingen der Infektion würde dann eine Depression „übrigbleiben“.
Auch in der Neurologie wird das chronische Müdigkeitssyndrom (G93.3) (engl. chronic fatigue syndrome, CFS) als myalgische Enzephalomyelitis oder postvirales Müdigkeitssyndrom definiert und in Verbindung mit Immunreaktionen gebracht. Erste Studien zur Long-COVID-Symptomatologie deuten auf viele Überschneidungen mit der klinischen Präsentation von ME/CFS hin. Die Ähnlichkeiten sind evident, die Unterschiede zwischen Long COVID und ME/CFS müssen noch herausgearbeitet werden und werden schließlich wichtig, wenn es unterschiedliche therapeutische Guidelines gibt.
In unserer modernen Gesellschaft und vor allem in den modernen Naturwissenschaften zählen objektive Fakten. Ist der Einzelne betroffen, zählt für ihn selbst vor allem das subjektive Erleben. Gerade in der Psychiatrie und der Allgemeinmedizin nimmt die subjektive Wahrnehmung einen hohen Stellenwert ein. Jeder Mensch kann sich als Subjekt wahrnehmen und erlebt seinen Weltbezug unmittelbar in der Welt, daraus entsteht ein Dreieck („Ich und Welt“, „die Welt in mir“ und „Ich in der Welt, in der ich bin, meine Welt“). Im bio-psycho-sozialen Modell werden Körper, Psyche und Soziales als selbstreferenzieller Prozess verstanden, subjektives und objektives Geschehen als Prozess, den wir „unser Leben“ nennen.
Mit der COVID-Pandemie ist nicht nur eine neue Viruserkrankung aufgetreten, sondern auch neu definierte Krankheiten wie Long COVID oder Post-COVID. Das österreichische Bundesministerium für Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz empfiehlt auf seiner Website als erste Anlaufstelle für Long-COVID-Betroffene die Primärversorgung. Jeder in Österreich, der den Verdacht hat, an Long COVID zu leiden, soll sich an die Hausärztin oder ihren Hausarzt wenden. Bei Bedarf wird eine Vermittlung an weitere niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzten und auch Therapeut:innen vorgenommen. Ein sekundäres Assessment in spezifischen, interdisziplinären und multiprofessionellen Versorgungsangeboten wie zum Beispiel Spezialambulanzen oder Gesundheitszentren der ÖGK kann zur Abklärung und weiterführenden Diagnostik komplexer Fälle im Wege einer Zuweisung aus dem niedergelassenen Bereich notwendig sein. Sowohl nach Behandlung einer COVID-19-Erkrankung in einer Krankenanstalt als auch bei einer zu Hause auskurierten Erkrankung wird je nach Schweregrad und auftretenden Symptomen bei Rehabilitationsbedürftigkeit und gegebener Rehabilitationsfähigkeit eine stationäre oder ambulante Rehabilitation zu veranlassen sein.
Jedenfalls wird es im biologischen, psychologischen und soziologischen Bereich strukturelle Entwicklungen brauchen, um die Herausforderungen in „Echtzeit“ bewältigen zu können. Erfahrungsgemäß können diese Maßnahmen dann besonders wirksam werden, wenn sie aufeinander abgestimmt sind.
Wurde mit dem Begriff Neurasthenie und Neurose auch die subjektive Krankheitserfahrung in ein Krankheitskonzept gegossen, so müssen heute die subjektive und die objektive Krankheitserfahrung von beiden Seiten gesehen werden: Es gibt objektiv COVID-positive Menschen ohne Krankheitssymptome, als auch welche mit Krankheitssymptomen.
Mit der Integration von Achtsamkeit, Entspannung, Aktivität und Arbeit und vor allem einer Tagesstrukturierung im Alltag kann die Rehabilitation in die Gesellschaft als wichtiges Therapieziel angegangen werden. Die komplette Trennung von Gesund und Krank muss einer differenzierteren Sichtweise weichen. Viele Formen der Arbeit in der modernen Gesellschaft können inzwischen auch bei eingeschränkter Gesundheit durchgeführt werden. Wichtig werden sinngebende Tätigkeiten und die Erfahrung von Selbsteffizienz, um die Handlungsmotivation zu steigern. Mit dem Trend von Homeoffice sind hier neue Möglichkeiten auch für Rehabilitationseinrichtungen gegeben, die nicht in Zentralräumen angesiedelt sind. Besonders mit dem Ende der Baby-Boomer-Generation kann eine Gesellschaft darauf nicht verzichten, wenn sie weiterhin so differenziert bleiben möchte.