Interview

„Erst wenn wir Daten liefern, werden wir wahrgenommen.“

Woher nimmst du die Motivation, das Projekt „Implementierung ICPC-2 in den Hausarztpraxen“ voranzutreiben?

Christoph Powondra: Meine Motivation, in das Projekt einzusteigen, war, eine Lösung für ein bestehendes Problem zu finden. Mir ist nach drei Jahren Arbeit mit der zweiseitigen ICPC-2-Tabelle klar geworden, dass man allein damit keine vergleichbaren oder verwertbaren Daten generieren kann. Medizinische Begriffe werden nach eigenem Gutdünken einem scheinbar passenden Code zugeordnet, was dazu führt, dass gleiche Begriffe von PVE zu PVE unterschiedlich codiert werden. Um diesem Problem zu begegnen, muss man eine österreichweit gültige Wortschatzsammlung erzeugen, die von allen akzeptiert und verwendet wird. Außerdem ist es notwendig, den Softwarefirmen einen klaren Leitfaden zur Verfügung zu stellen, damit die Wortschatzsammlung – der „Thesaurus“ – für alle Anwender:innen optimal ausgenutzt und möglichst anwender:innenfreundlich in der Software präsentiert wird. Ich habe mich dieses Problems gemeinsam mit Helmut Dultinger, einem Kollegen aus Niederösterreich, und Harald Kornfeil aus Salzburg angenommen. Wir haben im vergangenen Jahr schon sehr viele Probleme auf dem Weg zu einer sinnvollen Diagnosecodierung lösen können.
Dieses stetige Weiterkommen mit einem klaren Ziel vor Augen und die Freundschaft, die sich aus der Zusammenarbeit mit den beiden Kollegen entwickelt hat, sind derzeit meine größten Motivatoren.

„Meine Vision ist eine Diagnosecodierung, die superleicht zu verwenden und so strukturiert ist, dass jede Kollegin und jeder Kollege die Vorteile unmittelbar in der elektronischen Patientenkartei bemerkt.“

 

Wieso können für Österreich nicht einfach Vorbild-Projekte aus benachbarten Ländern – z. B. das FIRE-Projekt in der Schweiz oder das Content-Projekt in Deutschland – übernommen werden?

Content läuft nicht mehr, aber FIRE ist tatsächlich ein Vorbild, dem wir durchaus nacheifern. Wir sind auch mit den Kollegen aus Zürich im Erfahrungs- und Arbeitsaustausch. 1 : 1 übernehmen lässt es sich nicht, dazu sind die Rahmenbedingungen in allen drei Ländern zu unterschiedlich.

Was sind für dich die größten Herausforderungen?

Die Codierung so einfach und treffsicher wie möglich zu machen. Es darf nicht sein, dass wir in unserer Arbeit über Codes nachdenken müssen, das muss der Computer für uns erledigen. Wir suchen nur den geeigneten Begriff, der Computer hat den Code schon parat. Wir nennen das – nach Dr. Wolfgang Edinger – „indirektes Codieren“. Damit werden einerseits Ärztinnen und Ärzte in ihrer Arbeit nicht behindert und anderseits wird eine sinnvolle Datenauswertung möglich. Das von uns identifizierte primäre Problem, das beide Punkte betrifft, ist die Inhomogenität der Datenbanken der vielen verschiedenen Softwarefirmen. Da hat jeder seine eigene spezielle Welt kreiert, die untereinander nicht zusammenpassen. Für eine etwaige Datenerfassung wie bei FIRE in der Schweiz braucht es eine definierte einheitliche Datenbereitstellung aus den Praxisprogrammen. Dieses Fernziel ist derzeit zwar noch einigermaßen weit weg, aber auch da versuchen wir Lösungen zu finden.
Ein weiteres Argument für Diagnosecodierung ist für mich, dass ohne Codierung ein moderner Decision-Support – also eine computerunterstützte Entscheidungsfindung – nicht möglich ist. Die Allgemeinmedizin wird immer komplexer, die Medizin als Wissenschaft immer umfangreicher. Ich glaube, dass zur optimalen Patient:innenversorgung mittlerweile eine IT-unterstützte Entscheidungshilfe unabdingbar ist. Wir Hausärztinnen und Hausärzte müssen uns während der Arbeit an Patient:innen zunehmend mit aktueller Information ausstatten, um optimal versorgen und beraten zu können. Niemand kann dieses Wissen ständig parat haben. Je schneller und patient:innenspezifischer diese Informationen abrufbar sind, desto eher werden wir diese Informationsquellen zum Wohle unserer Patient:innen nützen. Denn viel Zeit haben wir im Praxisalltag bekanntlich nicht.

Siehst du Möglichkeiten, wie solche Projekte zu finanzieren sind?

Möglichkeiten sehen wir, allerdings gibt es noch nichts Konkretes. Letztlich müssen alle Stakeholder verstehen, dass ohne diese Entwicklungsarbeit weder Versorgungsplanung oder -forschung noch eine zeitgemäße Patient:innenversorgung möglich ist. Weder Softwarefirmen noch Hausärztinnen und Hausärzte sind unmittelbare Nutznießer:innen. Profitieren werden Patient:innen, Versorgungsforschung und Planung, Bund und Länder – wenn man beispielsweise an Disease-Control denkt – und auch der Hauptverband der Krankenversicherungsträger. Dort werden zum Beispiel die als Text verfassten Krankenstand-Diagnosen händisch in IC10-Codes umgeschrieben. Letztgenannte Stakeholder sollten die Ausführenden, nämlich beteiligte Hausärztinnen und Hausärzte und Softwarefirmen zumindest finanziell schadlos halten und die laufenden Kosten übernehmen.

Wie kann man die Beteiligten – Allgemeinmediziner:innen und Softwarefirmen – motivieren, am Projekt teilzunehmen?

Wesentlich wird sein, dass wie gerade erwähnt keine finanzielle Belastung für Hausärztinnen und Hausärzte oder Softwarefirmen durch die Teilnahme an diesem Projekt entsteht. Im Gegenteil würden erfolgsabhängige finanzielle Anreize – zum Beispiel für konsequente Diagnosecodierung – eine positive Motivation darstellen. Wir Allgemeinmediziner:innen werden uns in der österreichischen Versorgungslandschaft mit Hilfe dieses Projekts auch besser präsentieren können. Erst wenn wir Daten liefern, werden wir auch wahrgenommen. Ich glaube, dieses Bewusstsein könnte auch für viele eine Motivation sein.

Wie sieht deine Vision in diesem Projekt aus?

Meine Vision ist eine Diagnosecodierung, die superleicht zu verwenden und so strukturiert ist, dass jede Kollegin und jeder Kollege die Vorteile unmittelbar in der elektronischen Patientenkartei bemerkt – ein Decision-Support, der patient:innenspezifisch die wesentlichen Informationen aufbereitet, sinnvolle Warnungen gibt und uns mehr Zeit für unsere Patient:innen ermöglicht und letztlich die Möglichkeit zur zeitnahen Datenerfassung aus der Primärversorgung schafft, z. B. über Risikopatient:innen und Infektionsgeschehen, die wir in der COVID-19-Pandemie dringend gebraucht hätten.

Vielen Dank für das Gespräch!