Ethik ist zweifellos nach wie vor ein „running theme“ im Kontext der Medizin und der Gesundheitsberufe. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Publikationen allein im deutschsprachigen Raum die Bibliotheken und Rezensionsspalten füllen, an dem nicht wirkliche oder selbst ernannte Experten über Themen mit ethischer Relevanz für unseren Berufsalltag Stellungnahmen anbieten.
Tatsächlich haben sich im Gefolge der bewundernswerten naturwissenschaftlichen Innovationen und der vielfach beschriebenen Umstrukturierung innerhalb der Gesellschaft, die das Einzelindividuum in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rückte, neue Fragen und Problemkreise aufgetan, welche zusätzliche Anfragen an die Medizinethik richteten. Dies deshalb, da Ethik als philosophische Disziplin unser wertorientiertes – also moralisch gebundenes – Handeln im Alltag auf dessen Begründbarkeit zu untersuchen und uns die Für und Wider von Entscheidungen aufzuzeigen hat. Medizinisches Handeln steht ja nicht bloß unter dem Zeichen „technischer Machbarkeit“, sondern auch unter der Rückfrage, inwieweit das naturwissenschaftlich Mögliche für den individuellen Betroffenen in seiner Situation wirklich als „gut“ eingeschätzt werden kann und daher anstrebenswert ist. Diese Einschätzung und die daran gebundenen Begründungen mit dem Kranken zu erarbeiten, sind tatsächlich wichtige Teile des ärztlichen Auftrags!
So steht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit die Frage nach der Berücksichtigung der Selbstbestimmung unserer Partner im therapeutischen Prozess. Die Bedeutung der Autonomie wird dabei zumeist auf die Würde zurückgeführt, die jedem Menschen innewohnt. Gerade diese scheint heute in vielfältiger Weise in Frage gestellt zu werden. Unschwer wird jeder von uns Beispiele aus dem Alltag nennen können, in welchen diese Würde gefährdet scheint oder tatsächlich beschädigt zu werden droht. Hochbetagte Kranke beispielsweise, deren Willen nicht ausreichend zur Geltung kommen kann, weil sie vom Informationsfluss entweder durch Ärzte oder Angehörige gänzlich abgeschnitten, oder ihnen die Aspekte zu rasch und zu unverständlich vermittelt werden, sind in ihrer Würde beeinträchtigt; Entscheidungen, die mehr auf einer defensivmedizinischen Absicherungstendenz der Ärzteschaft beruhen denn auf der ehrlichen Suche nach dem Wohl des Betreffenden, stellen die Frage nach einer Verzweckung des Kranken und damit einer mangelnden Berücksichtigung seiner Würde; Sterbende, deren größter Wunsch nach einer ruhigen Lebensbeendigung an einer Therapieverbissenheit scheitert und am mitunter immer noch gepflegten anachronistischen Gedankengang, wonach „jeder Tod ein Versagen darstelle“, lässt uns an die tangierte Würde denken. Diese Angst stellt übrigens einen wesentlichen Grund dar, weshalb so viele Menschen in ihren Vorausverfügungen das Sterben „in den eigenen vier Wänden“ auch als Schutz vor medizinischem Interventionismus anführen! Andererseits aber wird die Würde auch – und gerade in Zeiten zunehmend ökonomisch motivierter Strategien – durch den vorzeitigen Ausschluss meist alter Menschen von finanziell aufwändigen Therapien bedroht, wenn die Begründungen keineswegs in Kongruenz zum Patientenwillen oder einer tatsächlichen Orientierung am Wohl stehen; wenn Argumente für Therapiezieländerungen weniger auf eine realistisch eingeschätzte zu erwartende Lebensqualität fußen, als vielmehr auf einer verdeckten Lebensbewertung.
Diese wenigen Beispiele zeigen auf, wie das ärztliche Handeln täglich Fragen hinsichtlich der Würde des Menschen aufwerfen kann. In jüngerer Zeit jedoch lässt sich auch eine Tendenz feststellen, dass die Würde und eine vermeintliche „Würdelosigkeit“ in neuartiger Weise durch die Patienten selbst hinterfragt werden. Nicht wenige Menschen, die gewohnt waren, ihr Leben und ihren Beruf engagiert zu meistern, empfinden es als „würdelos“, nunmehr krank und damit auf die Hilfe von anderen Menschen angewiesen zu sein, ja mehr noch: ein auch völlig symptomarmes oder bestens symptomkontrolliertes zu Ende gehendes Leben ohne Eingriffsmöglichkeit „ertragen“ zu müssen. Die Forderungen, dieses selbst als „würdelos“ diagnostizierte Leben vorzeitig zu beenden – sei es durch den Ruf nach aktiver direkter Sterbehilfe oder auch in zunehmender Weise nach einer gerade nicht palliativ verstandenen dauerhaften Sedierung mit konsekutiver Ernährungseinstellung – nehmen zu! Sie erfordern von uns ethisch fundierte Aussagen und Stellungnahmen. In ihnen muss – losgelöst von allen Verweisen auf rechtliche Gegebenheiten – jene Beziehung zu unserem nach wie vor gültigen ärztlichen Ethos der Heilsamkeit gefunden werden, welche den so verunsicherten Menschen auch dann seine unverwechselbare Würde spürbar werden und unsere Wertschätzung erfahren lässt, wenn unser medizinisches Handeln durch die tatsächlichen Gegebenheiten immer mehr eingeschränkt ist, wenn ärztliches Handeln konkret „nur mehr“ im mitfühlenden Begleiten besteht, das auch von uns nicht bloß als „Trostpreis für mangelnde therapeutische Möglichkeiten“ missverstanden werden darf!
Gerade diese angesprochene Würde des Menschen ist es also auch, welche die zentrale Begründung für die Bedeutung der Autonomie, und zwar sowohl die des Patienten als auch jene des Arztes, bietet. Die gegenseitige Respektierung dieser Selbstbestimmung erlaubt es erst, dass eine therapeutische Partnerschaft zwischen Arzt und Patient eingegangen werden kann, eine Beziehung, die ungeachtet der von vielen als schicksalhaft angesehenen Asymmetrie möglich ist. Denn ihre Bejahung relativiert oder bagatellisiert keineswegs die unterschiedlichen Wissensstände – der Patient erwartet nämlich geradezu, dass sein therapeutischer Partner mehr um die Gegebenheiten weiß, andernfalls wäre sein Besuch sinnlos! Sie beruht hingegen viel mehr auf der Erkenntnis, dass im Bezug auf die Wertorientierung, die unverzichtbar in die therapeutische Entscheidung einfließen muss, beide Partner Experten ihrer jeweils eigenen Wertorientierung sind! Ist dies schon für jeden Menschen grundsätzlich wesentlich, wird es umso bedeutungsvoller, wenn es sich um Kranke handelt, die ihre wertgebundenen Entscheidungsparameter aus anderen kulturellen Kontexten, ethnischen Einflüssen und moralischen Grundhaltungen beziehen. In Kenntnis und auf Basis der jeweils unterschiedlichen Werthaltung eine gemeinsame therapeutische Entscheidung zu erwirken, die mehr bedeutet als das bloße „Zustimmen“ zu einer vorgeschlagenen Therapieoption, stellt einen ärztlichen Dienst dar, der zweifellos genauso qualitätvoll zu sein hat wie das sachgerechte Handeln aufgrund der medizinischen Gegebenheiten!
Dabei darf nicht übersehen werden, dass in unterschiedlichen kulturellen Kontexten oft verschiedene Selbstbestimmungskonzepte vorherrschen, in welchen beispielsweise auch andere Familienangehörige einen konkreten Platz und eine vordefinierte Rolle einnehmen können. Diese Umstände nicht wahrnehmen zu wollen und etwa jeden in einer entsprechenden Kultur selbstverständlich verankerten familiären Beitrag bereits fehlerhaft als „Mangel individueller Selbstbestimmung“ oder „unerlaubte Beeinflussung der persönlichen Willensbildung“ zu interpretieren, kann zu groben Verwerfungen in der therapeutischen Beziehung und damit zur Beeinträchtigung des Heilungsprozesses führen. Auch in diesem Zusammenhang scheint sich in der Gegenwart ein neues und anspruchsvolles Betätigungsfeld unserer Fürsorge zu zeigen. Dieses besteht in der Entwicklung einer Sensibilität, die zwischen einer Einflussnahme, welche die Autonomie des Kranken beeinträchtigt und einer individuell notwendigen Hilfe Dritter für Entscheidungen differenzieren kann!
Diese wenigen Darstellungen, die aus dem Alltag aller Kollegen noch in vielfältiger Weise bereichert werden könnten, zeigen auf, dass die Notwendigkeit für eine im Alltag hilfreiche Ethik mehr denn je gegeben ist. Sie soll dazu dienen, in einsichtigen Begründungen typische Problemfelder argumentativ darzulegen, damit nicht die Entscheidungen in den Ordinationsräumen und Institutionen Tag für Tag oft nur intuitiv, zeitaufwändig und zufällig im Ergebnis getroffen werden müssen – eine Belastung, die sich auf die Berufsausübung auswirkt. Ebenso aber muss sie im Sinne einer „alltagspragmatischen Medizinethik“ auch dazu dienen, dass die aus medizinischem Wissen, ärztlicher Erfahrungen und medizinethischen Reflexionen gewonnenen Handlungsoptionen unseren jungen Kollegen so vermittelt werden, dass diese daraus auch wirklich konkrete Hilfen für den beruflichen Alltag gewinnen können.
Dies ist, davon bin ich überzeugt, ein Dienst, der deshalb vorrangig von uns als Ärzteschaft zu leisten ist, weil wir auch die Einzigen sind, die wissen, wie sich Entscheidungen „anfühlen“, die häufig weder auf diagnostisch noch prognostisch so klaren Vorgaben beruhen, wie dies in den theoretischen Publikationen zumeist beschrieben wird; weil wir wissen, wie die Verantwortung für Entscheidungen in den Grauzonen eines „sowohl – als auch“ zu tragen ist. In diesem Zusammenhang ist es zu beklagen, dass die in den letzten Jahren begonnene Basis- und Aufbauarbeit innerhalb der Wiener Ärztekammer, die genau dieses Ziel verfolgte, mittlerweile nicht mehr mit dieser Intensität fortgeführt werden kann! Denn diese Kenntnis und Erfahrung ermöglichen erst eine notwendige Authentizität unseres Handelns! Sie ist es, die in Verbindung mit erworbenem medizinethischem Wissen im konkreten Alltag nicht nur notwendig, sondern geradezu erforderlich ist, sollen sich sämtliche medizintechnischen Innovationen, denen wir viel verdanken, mit einer tatsächlichen Heilsamkeit des ärztlichen Handelns verbinden, der wir uns nach wie vor verpflichtet fühlen!
Hinweis: Das nächste auf die „alltagspragmatische Medizinethik“ ausgerichtete Seminar „Ethische Grundfragen in der Medizin“ (sechs Abende) beginnt im Jänner. Näheres auf der Website des „Forum Medizin Ethik“ finden Sie unter www.medethik.at!