Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das sich durchaus auch angenehm anschmiegen kann:
Ich erinnere mich mit Wohlbehagen an so manche einsame Schi- oder Bergtour. 1994 war ich auf einer Trekkingtour in Nepal; an einem Nachmittag entfernte ich mich von der Lodge und stieg und stieg und stieg so weit hinauf, bis ich glücklich innehielt: Ich war allein mit meinem Herzschlag, mit meinem Atmen und dennoch geborgen in der Einsamkeit.
Goethe beschrieb in der „Italienischen Reise“ eine andere, paradoxe Einsamkeit, nämlich die in der Menge: „Die Einsamkeit, nach der ich oft so sehnsuchtsvoll geseufzt, kann ich nun recht genießen, denn nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, wo man sich allen ganz unbekannt durchdrängt. In Venedig kennt mich vielleicht nur ein Mensch, und der wird mir nicht gleich begegnen.“
Demgegenüber ist das Gefühl der Einsamkeit quälend, wenn man sich „verlassen fühlt“ von der Geliebten oder sogar von „Gott und der Welt“ oder noch schlimmer, sich „vergessen“ weiß.
Ich denke, fast jeder Mensch macht in seinem Leben Phasen durch, die man als „schwer depressiv“ bezeichnen kann. Schubert war unerreicht darin, dieses Gefühl in Musik zu übersetzen. In dem von ihm vertonten Gedicht von Wilhelm Müller „Einsamkeit“ heißt es:
Wie eine trübe Wolke durch heit’re Lüfte geht
Wenn in der Tanne Wipfel ein mattes Lüftchen weht:
So zieh ich meine Straße dahin mit trägem Fuß,
Durch helles, frohes Leben einsam und ohne Gruß.
Ach, daß die Luft so ruhig! Ach, daß die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht.
Das trifft das Wesen der Depression: nichts mehr zu spüren, da war es noch besser bei den „tobenden Stürmen“, da hat er wenigstens noch etwas gespürt.
Wenn jemand unter seiner Einsamkeit leidet – erst dann wird sie bitter, und dann macht sie krank: „Es gibt ein Verstummen, ein Vergessen alles Daseins, wo uns ist, als hätten wir allen verloren, eine Nacht unserer Seele, wo kein Schimmer eines Sterns, wo nicht einmal ein faules Holz uns leuchtet.“ (Hölderlin)
Was sind nun die Wege aus der Einsamkeit zur − ja was eigentlich – Zweisamkeit? Die Zweisamkeit ist ja auch ambivalent: ein Paar kann sich schrecklich einsam fühlen. Die Aufhebung der Einsamkeit in der Zweisamkeit ist gebunden an Gemeinsamkeit, an Geborgenheit.
Diese Gemeinsamkeit, die Geborgenheit stiftet, entsteht nicht aus Verschmelzung, sondern aus Begegnung. Mir erscheint der eine Weg aus der Einsamkeit die Erkenntnis im Sinne Marin Bubers: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ An einer anderen Stelle sagt Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
„Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern.“
„Mit sich beginnen, aber nicht bei sich enden, bei sich anfangen, aber sich nicht selbst zum Ziel haben.“
Mit einem anderen Zitat ist ein anderer Weg skizziert, wie Schritte aus der Einsamkeit möglich sind: „In jedermann ist etwas Kostbares, das in keinem anderen ist.“ Voraussetzung für diese Erkenntnis ist die Einsamkeitsfähigkeit. Einsamkeitsfähigkeit ist die Akzeptanz von Einsamkeit als eines unvermeidlichen, sinnvollen, produktiven Bestandteils unseres Lebens. Dazu gehört die Empathie zu sich selbst. Empathie ist in uns angelegt, daher ist jeder auch empathiefähig. Und genauso wie Empathie zu sich selbst möglich ist, ist Empathiefähigkeit für andere geradezu unvermeidlich. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber). Im Kern ist das die Botschaft fast aller Religionen: Wir sind aufeinander angewiesen.