Der Aphorismus „Your genetics load the gun. Your lifestyle pulls the trigger“ beschreibt treffend die Interaktion zwischen der prädisponierenden genetischen Grundlage und den modulierenden Umweltfaktoren, die für fast jede komplexe Erkrankung maßgebend ist. Für monogenetische Erkrankungen wird die genetische Grundlage ohne Trigger zur alleinig bestimmenden Krankheitsursache. Die Medizin kennt mittlerweile tausende monogenetische Erkrankungen, die zwar einzeln selten sind, aber in Summe geschätzt bis zu 5 % der Bevölkerung betreffen. In der Neurologie spielen genetische Syndrome eine besonders große Rolle, was nicht verwundert, da mindestens ein Drittel aller Gene für das Gehirn kodiert. Die Palette umspannt die gesamte Neurologie und reicht von hunderten unterschiedlichen genetischen Epilepsien über ebenso zahlreiche neuromuskuläre Syndrome bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen, wie beispielsweise familiäre Demenzen. Lange Zeit galten genetische Erkrankungen als nicht behandelbar und wurden als „Waisenkinder“ in der Medizin („orphan diseases“) vernachlässigt. Diese Situation änderte sich jedoch in den letzten Jahren durch die rasanten technischen Fortschritte im Bereich der Genetik. Wir können den betroffenen PatientInnen heute Möglichkeiten anbieten, die vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wären. Dies betrifft insbesondere drei Bereiche: die Ausweitung und Erleichterung der genetischen Diagnostik, die verbesserte individualisierte Beratung und Betreuung sowie die Möglichkeit gezielter Gentherapien.
Die moderne Gensequenzierung, insbesondere die Technik des „next-generation sequencing“ (NGS) revolutionierte – ohne Frage – die Diagnostik seltener genetischer Syndrome im klinischen Alltag. Mit ihrer Hilfe können wir heute mit vertretbarem Aufwand und vergleichsweise geringen Kosten auch die seltensten monogenetischen Erkrankungen mit einer einzigen Blutabnahme erfolgreich abklären. Trotz aller Erfolge ergeben sich aber noch einige relevante Einschränkungen. Eine genetische Diagnostik ist in der Regel nur dann erfolgversprechend, wenn konkrete klinische Anhaltspunkte für eine genetische Ursache vorliegen. Dazu zählen etwa eine klare positive Familienanamnese, ein äußeres syndromales Erscheinungsbild (z. B. die typische Facies myopathica mit hoher Stirnglatze bei der myotonen Dystrophie Typ 1) oder klare Hinweise aus dem Phänotyp oder aus dem Labor, die auf ein bestimmtes Gen schließen lassen (z. B. Fehlen der sauren Maltase beim Morbus Pompe). Liegen diese „clues“ nicht vor, ist eher von einer komplexen multigenen Erkrankung auszugehen, und die genetische Analyse ist (noch) nicht zielführend. Den zuweisenden Ärzt:innen obliegt gemeinsam mit dem genetischen Labor die Auswahl des richtigen aus den vielen möglichen Testverfahren je nach vermuteter genetischer Variante. In vielen Fällen setzte sich die Whole-Exome-Sequenzierung (WES) als Methode der Wahl durch, bei der alle proteinkodierenden Abschnitte des Genoms analysiert werden. Bei der Interpretation der Befunde ist allerdings zu beachten, dass, und dies ist der Komplexität der Genetik geschuldet, die reelle Gefahr falsch positiver Ergebnisse besteht und Resultate immer kritisch hinterfragt werden müssen. Auch falsch negative Befunde kommen vor, selbst bei optimaler Technik. Auch bei guter Vorauswahl der Pa-tient:innen liegt die diagnostische Ausbeute meist nur zwischen 20 % und 50 %, d. h., das Ende der diagnostischen Möglichkeiten ist noch nicht erreicht, das ist eine Lücke, die in Zukunft vielleicht durch die Sequenzierung des gesamten Genoms geschlossen werden kann.
In den vergangenen Jahren konnten riesige genetische Datenbanken auf Grundlage hunderttausender Patient:innen etabliert werden. Dies beflügelte nicht nur die Forschung, sondern ermöglicht in vielen Fällen eine fundierte und individualisierte, d. h. mutationsspezifische, Beratung der Patient:innen, etwa hinsichtlich ihrer weiteren Prognose, einer konventionellen Therapie oder hinsichtlich etwaiger drohender Begleiterkrankungen. So sollten bei gewissen genetischen Epilepsien (z. B. beim Dravet-Syndrom) antikonvulsive Medikamente vermieden werden, die über den Natriumkanal wirken. Als weiteres Beispiel sei die Korrelation der Schwere der Klinik oder des Erkrankungsalters mit der Anzahl der repetitiven DNA-Abschnitte bei der Chorea Huntington genannt. Durch die freie Zugänglichkeit von medizinischen Datenbanken ist es heute ein Leichtes, Patient:innen professionell zu beraten: siehe „Gene Reviews“.
Mit der Entwicklung genetischer Therapien wurde eine neue Ära in der Medizin eingeläutet. An vorderster Front stehen dabei die neuromuskulären Erkrankungen. Bei der spinalen Muskelatrophie kommt es durch den Untergang von motorischen Vorderhornzellen zu einem Muskelschwund – oft schon im Kleinkindsalter – mit tödlichem Ausgang. Die Ursache dafür ist ein Defekt im SMN1-Gen. Zwar kann ein Ersatzgen (SMN2) zum Teil – jedoch meist nur unzureichend – einspringen. Mit Nusinersen und Risdiplam wurden zwei neue Gentherapien zugelassen, welche die Funktionalität des SMN2-Gens durch einen raffinierten Mechanismus stärken, nämlich durch Inklusion eines sonst sogenannt gespleißten Exons. Die dritte verfügbare Therapie, Onasemnogen-Abeparvovec, schleust das fehlende SMN1-Gen über einen viralen Vektor dauerhaft in die Nervenzellen ein, der nur einmal intravenös verabreicht werden muss. Alle drei Therapien erbrachten sehr beeindruckende klinische Erfolge: Die Kinder, die ohne Behandlung verstorben wären, erreichten ungeahnte motorische Meilensteine.
Als weiteres Beispiel eines neuen Behandlungsprinzips (Exon-Skipping) seien die unterschiedlichen Gentherapien zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie genannt, wie beispielsweise Eteplirsen. Damit gelingt es, fehlerhafte Abschnitte im zugrunde liegenden Dystrophin-Gen zu überspringen, womit ein etwas kürzeres aber noch funktionsfähiges Dystrophin-Protein produziert wird. Auch hier konnten eindrucksvolle klinische Ergebnisse erzielt werden.
Wieder andere Therapien beruhen auf dem Abbau einer schädlichen mRNA, wie z. B. bei der Transthyretin-Amyloid-Polyneuropathie durch RNA-Interferenz (Patisiran) oder mithilfe eines Antisense-Oligonukleotides (Inotersen). Mit den beispielhaft genannten Therapien wurde auch der Beweis des jeweiligen Wirkprinzips erbracht, das sich nun auch relativ leicht auf andere Erkrankungen umlegen lässt. Tatsächlich befinden sich Dutzende neue, vielversprechende Gentherapien für verschiedene neurologische Erkrankungen in der Pipeline, u. a. für Chorea Huntington oder für genetische Varianten der amyotrophen Lateralsklerose. Die Hoffnung ist also berechtigt, dass wir in weiteren 20 Jahren viele weitere – ehemals unheilbare genetische Erkrankungen – erfolgreich behandeln werden können.