Medienberichte über Übergriffe von Patienten gegenüber Ärzten und anderen Gesundheitsberufen häufen sich. Bekannt gemacht werden derzeit vor allem Fälle mit Migranten, die vermeintlich das Gesundheitswesen ausnutzen wollen und bei Ablehnung ausfällig werden. Doch das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein, wie die Ärztekammer auf Anfrage der Ärzte Krone bestätigt. Denn auch in Deutschland und der Schweiz steht das Thema zunehmend auf der Tagesordnung, weil das Problem quer durch alle Bevölkerungsschichten verläuft.
Aggression und Gewalt zählen laut Untersuchungen mittlerweile zum Berufsalltag vieler Beschäftigter in allen Berufsgruppen des Gesundheitswesens, berichten auch das Institut für Ethik und Recht in der Medizin und die Österreichische Plattform Patientensicherheit. „Aggression und Gewalt im Gesundheitswesen werden oftmals als Berufsrisiko hingenommen. Die angespannte Situation in den Gesundheitseinrichtungen – vor allem der Zeitdruck sowie die hohe Arbeitsdichte – bieten zusätzlich Nährboden für ein angespanntes Klima“, fasste Dr. Brigitte Ettl, Ärztliche Direktorin im Krankenhaus Hietzing und Präsidentin der Österreichischen Plattform Patientensicherheit, die aktuelle Lage bei einer entsprechenden Tagung zusammen. „Man muss nur einen Blick in die Tageszeitungen werfen: Regelmäßig wird die gestiegene Gewaltbereitschaft in österreichischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen thematisiert“, sagte auch Maria Kletečka-Pulker, Stellvertretende Leiterin des Institutes für Ethik und Recht in der Medizin und Geschäftsführerin der Österreichischen Plattform Patientensicherheit.
Diese Situation bestätigen auch aktuelle Statistiken der Unfallversicherung AUVA: Demnach sind neben Polizisten Angehörige von Gesundheitsberufen diejenigen, die beruflich am meisten von Gewalt betroffen sind. Aus diesem Grund widmen sich Gesundheitseinrichtungen zunehmend diesem Thema. Aktuell wurde im AKH Wien und an der MedUni Wien eine umfassende Befragung zum Thema Aggressionsereignisse durchgeführt. Der hohe Rücklauf zeigt die Brisanz des Themas.
„Gewalt und Aggression nehmen klar zu. Es dürfte sich um ein allgemeines Gesellschaftsproblem handeln und hängt auch mit der extremen Arbeitsverdichtung im Gesundheitswesen zusammen – mit längeren Wartezeiten und Stresssituationen“, sagt Dr. Wolfgang Weismüller, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer. Deeskalation brauche Zeit, doch genau die fehle. Ebenso wie Personen fehlen, die sich darum kümmern. „Ein häufiger Grund für die wachsende Aggression sind Sprachbarrieren. Können sich Patienten und deren Angehörige nicht verständigen, führt dies oft zu einem Gefühl der Ohnmacht und Angst“, ist Kletečka-Pulker überzeugt. Hier brauche es professionelle Lösungsstrategien, wie zum Beispiel den Einsatz von Videodolmetschern. Weismüller sieht das Problem nicht auf Migranten begrenzt, räumt aber ein, dass die Sprachbarriere „nicht zur Deeskalation beiträgt“. Internationale Zahlen würden von 5 % über alle Bereiche sprechen, sagt er. „An neuralgischen Stellen berichten bis zu 50 Prozent der Mitarbeiter von verbaler und körperlicher Gewalt. Die Zahlen sind EU-weit vergleichbar. Das ist also kein spezifisch österreichisches Problem.“
In Deutschland hat zuletzt der 121. Ärztetag in Erfurt an Politik und Gesellschaft appelliert, mehr Anstrengungen zu unternehmen, Ärztinnen und Ärzte, medizinisches Personal und Rettungskräfte vor Gewalt und Aggressionen zu schützen. Derzeit nehme die Aggressivität in der Gesellschaft zu und der Respekt ab, meinten die Delegierten. So hätten neun von zehn Allgemeinmedizinern in ihrer Praxis schon einmal Aggression erleben müssen. Konkret forderten die Delegierten den Gesetzgeber dazu auf, auch Ärzte und medizinisches Personal ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Bei einer Novellierung des Strafgesetzbuches im vergangenen Jahr sei das Strafmaß für tätliche Angriffe auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungsdienstmitarbeiter erhöht worden. Ärzte und medizinisches Personal würden hingegen nicht berücksichtigt. Das wünscht sich auch Weismüller in Österreich. Die Gleichstellung von Ärzten mit Polizisten könnte Entlastungen bringen, ist er sicher. „Überwachungskameras allein helfen nicht.“
Im Zuge der Tagung in Wien wurde auch unter dem Titel „Tipps für mehr Sicherheit von MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen“ eine Handlungsempfehlung zum Thema ausgearbeitet und präsentiert. Gewalt und aggressives Verhalten müssen von der Institution wahrgenommen werden und dürfen nicht tabuisiert werden, so der Tenor. Dazu Kletečka-Pulker: „Gewaltprävention ist eine Führungsaufgabe – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen entsprechend sensibilisiert werden. Jeder, der aggressives Verhalten ignoriert, toleriert es damit. Es bedarf einer Null-Toleranz-Strategie, die auch gelebt werden muss und die zum Beispiel in die Hausordnung aufgenommen werden kann.“ Gewaltprävention umfasse viele Maßnahmen, wie die Risikoeinschätzung, etwaige Notrufsysteme, unter Umständen Videoüberwachung in Notfallabteilungen, Sicherheitsdienste, Meldesysteme, die Schaffung einer geeigneten Atmosphäre im Warteraum, Einführung standardisierter Dokumentation sowie die Aufarbeitung von Vorfällen. Entscheidend sei vor allem ein regelmäßiges Sicherheitsverhaltenstraining der Mitarbeiter, in dem entsprechende Deeskalationsmethoden, aber auch Selbstverteidigungstools geschult werden.