Dr.in Kamaleyan-Schmied: Dieses Problem hat schon vor COVID bestanden, hat sich aufgrund davon aber leider noch verschärft. Die Problematik hängt meiner Ansicht nach direkt mit den derzeitigen sozialen Belastungen wie Ukrainekrieg, Energiekrise und dem Ärztemangel zusammen. Der Ärztinnen- und Ärztemangel betrifft vor allem die Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde. Das sind Fächer, in denen das Gespräch sehr wichtig ist und wo deshalb auch eine enge Bindung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patient:innen besteht. Die Patient:innen kommen öfter, haben Vertrauen, und bekommen hier die emotional wichtige Zuwendungsmedizin, die sie brauchen.
Gegenden, in denen vor allem sozial schwächere Patient:innen wohnen, für die man sich meist auch mehr Zeit nehmen muss, sind tendenziell auch schlimmer vom Kassenärztemangel betroffen. In überfüllte Praxen kommen immer wieder ältere Patient:innen, die sagen: „Mein Hausarzt ist in Pension gegangen, eure Praxis ist behindertengerecht, bitte nehmts mich!“ Die Patient:innen tun mir leid, aber ich muss schlussendlich auf die psychische Gesundheit meines Teams als auch auf die Qualität der Betreuung achten, deshalb muss ich bezüglich Aufnahmestopp streng sein.
Man hört: „Damals haben die Hausärztinnen und Hausärzte mehr Zeit gehabt.“ Doch diese Zeit ist rar! Ein Schnupfen wird schnell abgehandelt. Da sind die Patient:innen enttäuscht. Es ist nicht mehr so wie damals.Oft ist es wichtig, auch das Rundherum anschauen zu können! Familienverhältnisse zu erfragen. Denn oft ist Krankheit die Folge von Ängsten, emotional oder finanziell verursacht, etwa durch Arbeitslosigkeit. Hier kommen die Zuwendungsmedizin und Familienmedizin eindeutig zu kurz.
Schon vor Corona konnte man sehen, dass Patient:innen tendenziell verbal aggressiver wurden, einfach, weil die Wartezeiten länger waren. Oft leisten sich Patient:innen private Ärztinnen und Ärzte und denken sich gleichzeitig: „Ich zahle Sozialversicherungsbeiträge, und bekomme nicht einmal einen Arzt, wenn ich ihn brauche.“
Vor Corona haben wir in Wien gemeinsam mit einer Sicherheitsfirma Deeskalationskurse entwickelt und in der Ärztekammer angeboten, weil der Bedarf dafür erkannt wurde. Die Idee war, dass Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit ihren Ordinationsassistent:innen geschult werden, Konfliktsituationen rechtzeitig zu erkennen und aufzufangen – und sich gleichzeitig davor hüten, dabei in die Opferrolle zu fallen. Diese Kurse waren immer rasch ausgebucht.
Die Ordinationsassistent:innen achten auf Patient:innen, die schon in der Warteschlange unruhig sind oder einen schlechten Allgemeinzustand haben und erkennen so frühzeitig, wenn jemand schnell drangenommen werden muss.
Oder ein anderes Beispiel: Wenn länger niemand aufgerufen wird, fragen sich die Patient:innen: „Was machen die Ärztinnen und Ärzte so lange?“ Da hilft es, wenn man Möglichkeiten hat, eine Durchsage zu machen, zum Beispiel: „Derzeit kommt es aufgrund eines Notfalls zu längeren Wartezeiten, wir bitten um Ihr Verständnis.“
Es gibt mehr Unsicherheiten, mehr Ängste. Es kam das Thema Impfstoff, und damit verbunden waren unzählige Fragen: „Ich kriege den Impfstoff nicht, die anderen schon? Soll ich mich überhaupt impfen lassen? Bin ich Risikopatient? Gibt es COVID überhaupt?“ Die Verschwörungstheorien sind entstanden und das gleichzeitig mit einem Versagen der Kommunikation vonseiten der Politik. Das alles hat die Situation nicht leichter gemacht.
Als die Impfstraßen eingeführt wurden, gab es viele Presseaussendungen, in mehreren Aussendungen war mein Bild.
Während dieser Zeit habe auch ich Morddrohungen per E-Mail bekommen. Ich habe in dieser Zeit der Überforderung nicht gewusst, was ich tun soll, also habe ich einfach die Mails gelöscht. Im Nachhinein eine sehr schlechte Entscheidung.
Als ich von dieser Tragödie gehört habe, ist mir selbst sehr mulmig geworden. Mir ist klar geworden, dass ich diese Drohungen unterschätzt habe.
Ich habe mich gefragt: Was macht das mit uns als Ärztinnen- und Ärzteschaft? Wird uns da ein Maulkorb verabreicht? Muss ich aufhören, kritisch zu sein, aus Angst, am nächsten Tag Morddrohungen zu bekommen?
Dieser Suizid hinterlässt auch ein Gefühl, dass Gewalt ein Frauenthema sein könnte. Wie wäre es gelaufen, wenn ein Mann betroffen gewesen wäre? Hätte man den Fall eher ernst genommen? Wäre irgendwer auf die Idee gekommen, einen Mann zu bedrohen?
In Wien zum Beispiel sind wir relativ gut aufgestellt: Deeskalationskurse, Psychotherapieangebote, Unterstützung durch die Rechtsabteilung. Auf Facebook haben wir eine Gruppe von Hausärztinnen und Hausärzten in Wien, da kommen viele fachliche Fragen, aber es werden auch Probleme gemeinsam diskutiert.
Wir hatten während COVID eine Kooperation mit der Polizei – die impfenden Ordinationen waren ja sehr im Blickfeld von Impfgegnern. Polizist:innen aus der nächsten Polizeidienststelle sind bei uns vorbeigekommen. Das gab uns allen, auch den Patient:innen, ein gutes Sicherheitsgefühl. Zusätzlich brauchen wir aber dringend Maßnahmen, die von der Öffentlichen Hand gezahlt werden sollten – um die Sicherheit für unsere Berufsgruppe zu verbessern. Der Austausch untereinander, die Supervision unter Kolleginnen und Kollegen muss gefördert und forciert werden.
Bei Ärztinnen und Ärzten gibt es eine hohe Suizidrate. Wir sind und waren gewohnt, immer unsere Patient:innen zu fragen, wie es ihnen geht, aber im eigenen Team der Ärztinnen- und Ärzteschaft versagen wir. Dabei sollte das selbstverständlich sein – schaut aufeinander, ruft eure Kolleginnen und Kollegen an: Was kann ich tun, damit jemand, der Hilfe braucht, auch zeitnah Hilfe bekommt.
Schön wäre ein einfacher klarer Weg, wie man sich Hilfe holen kann, zum Beispiel eine Hotline, die ich anrufe, eine Art Ombudsstelle, die im Bedarfsfall zur Rechtsabteilung oder zur Supervision weiterleitet. Diese Ombudsstelle sollte auch Statistiken führen. Aus meiner Sicht wäre es notwendig, eine österreichweite Monitoringstelle zum Thema Gewalt einzurichten.
Es wird ja nicht besser. Wir hören vom Ukrainekrieg, alles wird teurer.
Geht es der Bevölkerung schlecht, werden die Leute aggressiv. Absolut nachvollziehbar! Ängste, Armut, Unsicherheit, all das macht krank und aggressiv.
Teils, teils. Gut war die Zeit während COVID, wo vieles online, vieles per E-Mail gelöst wurde. Jetzt, wo laut Krankenkasse COVID vorbei ist, geht das nicht mehr.
Die Arbeit am Telefon ist wirklich schwierig. Man spart sich da keine Zeit gegenüber einer normalen Konsultation, im Gegenteil.
Die E-Medikation ist eine wirkliche Entlastung. Der E-Impfpass ist auch gut. Allerdings gibt es auch Nachteile. Generell kann ich Telefonate und E-Mails nicht während der Ordinationszeit bearbeiten, da ich ja mit Patient:innen beschäftigt bin. Deshalb muss ich manchmal noch 2 Stunden nach der offiziellen Ordinationszeit nacharbeiten.
Ein ganz eigenes und sehr schwieriges Thema punkto Digitalisierung sind die Ärztinnen-und Ärzte-Bewertungsplattformen. Der Mechanismus funktioniert so: Wenn die Patient:innen zufrieden sind, gehen sie zufrieden nach Hause. Wenn sie sich ärgern, schreiben sie eine Beschwerde. Da kam es sogar vor, dass eine Patientin mit ihrem Handy vor mir stand und ein Medikament mit den Worten: „Du machst das jetzt für mich oder ich schreibe dir eine Ein-Stern-Bewertung!“, einforderte. Auf solchen Plattformen findet schon mal Rufschädigung statt. Am Anfang habe ich noch fleißig geantwortet – das habe ich aufgegeben. Wenn möglich, suche ich immer das persönliche Gespräch. Online bin ich wehrlos. Ich kann nicht rückantworten, wenn ich dadurch zum Beispiel persönliche Daten oder Diagnosen der Patient:innen preisgeben müsste und somit den Datenschutz verletze. Es gibt niemanden, der für mich Fakes herausfiltert. So etwas belastet emotional. Diese Plattformen müsste man überdenken.