Die WHO hat 1946 Wohlbefinden – „wellbeing“ als eine der zentralen Aufgaben von Gesundheitssystemen definiert. Eine schwierige Zielsetzung, deren Problematik sich schon in der Unterscheidung von subjektivem Wohlbefinden und objektivem Wohlergehen zeigt. Viele Menschen haben ausreichend Güter und eine erwünschte Stellung in der Gesellschaft, könnten sich aufgrund eines „guten, erfolgreichen“ Lebens glücklich fühlen und schaffen dies trotzdem nicht. Diese kommen in die Ordinationen mit Ängsten, Befindensstörungen, negativem Gemütszustand und hoffen auf uns als Vermittler von Erwartungsglück. Wir blicken auf Befindensstörungen, überlegen Teillösungen, ahnen zwar häufig, was möglicherweise dem Empfindensglück im Wege steht, selten können wir tiefgreifende Veränderungen bewirken. Zu viel weht aus dem Zeitgeist entgegen. Hier effektiver zu werden war einer der Gründe, weshalb sich die ÖGPAM dem Thema „Glück“ nähern wollte.
Sechs Impulse aus ganz verschiedenen Perspektiven wurden von Mitgliedern des Vorstands der ÖGPAM gebracht und gemeinsam diskutiert. Die Unterschiedlichkeit der Zugänge zum Thema führte zu einer gegenseitigen Bereicherung und zu einem Lernprozess für die Begegnung mit Patient:innen, aber auch zu den eigenen Wegen zum Glücksempfinden.
MR Dr. Reinhold Glehr beleuchtete den Blick der anderen auf das eigene Glück, wenn die Bestätigung des Wohlergehens durch andere Menschen gesucht wird, in den letzten Jahrzehnten vor allem auch über soziale Medien. „Was werden die anderen sagen?“ hat sich gewandelt zu „Wie viele Likes werde ich bekommen?“. Liebe zu Menschen, zu Dingen, zu Tätigkeiten wurden Gegenstand der öffentlichen Selbstdarstellung. Bewunderung, eventuell auch Neid, Mitgefühl, wenn etwas schief geht, wird von Menschen erhofft, mit denen eine Verbindung nur über das Internet besteht. Insbesondere Unglücklichsein in Zusammenhang mit Liebe begegnet uns – allerdings in Verkleidung – häufig in unseren Ordinationen. Sprechen wir dies konkret an, treffen wir auf eine Vielzahl unterschiedlichster Vorstellungen. Unser aufmerksamer, widerspiegelnder Blick ist oft ohne sonstige Intervention ausreichend, um Wandlungen zu initiieren bzw. Denkanstöße zur Änderung der Lebenssicht zu geben.
Dr.in Ursula Doringer schärfte in ihrem Impuls den Blick auf die vielen Begrifflichkeiten in Zusammenhang mit Glück. Im üblichen Sprachgebrauch verwendet sind sie auch Schlüsselwörter in der Konsultation, denen besondere Bedeutung zur Entschlüsselung des vermuteten Unglücklichseins zukommen kann. „Das Glück liegt im Gehirn“, zitiert sie Mentalcoach Nicole Burtscher. Das Mindset, unser Handeln und Denken, mache 40 % unseres Glückslevels aus, 10 % die Lebensumstände und 50 % die Gene – so die Glücksforschung. Wertschätzung des Gegenübers und des Lebens im Allgemeinen, eine positive Geisteshaltung, Meidung von Neid und sorgenvollem Grübeln gab Dr.in Doringer als Kernbotschaften den Zuhörer:innen mit.
MR Dr. Bernhard Panhofer wählte fragende Ansätze für seinen Impuls: Glück als Schwester des Zufalls, ein Geschenk des Empfindens, etwas wie ein Strom, der fließt, kein Zustand. Etwas, zu dem man sich vielleicht sogar entscheiden kann und zu dem man andererseits Glück braucht, um es empfinden zu können. Fragend beleuchtete er auch die Zerstörer des Glücks in Form der biblischen Todsünden, die im Zeitgeist einen festen Platz haben: Habgier, Hochmut, Neid, Zorn, Völlerei, Trägheit, Wollust. „Den Traunstein über den Ostgrat gehen, ganz allein, meditativ, ist Glück, das Ganze unter 2 Stunden machen zu wollen ist Gier.“ Aber auch die Kardinaltugenden, die da sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung wurden von Dr. Panhofer kritisch beleuchtet und ihre Verträglichkeit mit Glück in Frage gestellt: „Wenn ich besonders klug das Glück suche, werde ich mich wahrscheinlich verirren vor lauter Achtsamkeit, Vorsicht und Zusammenreißen.“
Dr.in Renate Hoffmann-Dorninger zitiert aus dem World Book of Happiness Ernst Gehmachers: Glück kann auch im Alter entwickelt und sogar gesteigert werden, wenn drei Faktoren stimmen: Fitness, Freunde und Freude. Fitness? Chronische Krankheiten treffen nur 5 % der Menschen mit gutem Sozialkapital wie Leben in einer Gemeinschaft, Spaß an der Arbeit oder aktiven Hobbies. Freunde? Die beste Chance für „soziales“ Glück besteht, wenn Menschen in ihrem Familien- und Freundeskreis mindestens vier, aber nicht mehr als 12 enge Beziehungen pflegen, mit vollem gegenseitigem Vertrauen und verlässlichen Hilfeleistungen. Gleichzeitig haben sie 15 (ohne Obergrenze) andere freundschaftliche, kooperative Beziehungen zu Personen, die sie gut kennen und das ausgeprägte Gefühl, zu einer größeren sozialen Einheit zu gehören. Freude? Wohlstand macht die Armen glücklicher und die Reichen unglücklicher. Wohlstandssteigerungen machen Menschen kurzfristig glücklicher, aber nicht dauerhaft. Große Wohlstandsungleichheit fördert Aggressionen und das Unglück aller.
Als wichtigste Erkenntnis gibt sie den Zuhörer:innen mit, dass unser Glück weniger von objektiven Umständen wie Geld, Gesundheit und sogar einer funktionierenden Gemeinschaft abhängt, sondern vor allem vom Verhältnis zwischen den objektiven Umständen und unseren subjektiven Erwartungen. „Schon mein Vater hat gemeint, sein Leben sei ihm als Sammlung von kleinem Glück passiert.“
Dr. Thomas Jungblut widmete sich in seinem Impuls besonders dem „Glücksmoment“ und machte sowohl auf das Statische als auch auf das Dynamische, das im Wort enthalten ist, aufmerksam. Glücksmomente können kurz sein, können in der Arzt-Patienten-Beziehung aber auch Bestand haben, wenn eine Atmosphäre des wohlwollenden Interesses gelingt, sich die Patient:innen angenommen, aufgenommen, verstanden, geborgen fühlen. Dann entsteht eine Atmosphäre, in der sich auch die geheimsten, schlimmsten und verborgensten Belange zeigen, besprechen und behandeln lassen. Nach so einer Sitzung verlassen uns die Patient:innen dankbar, erleichtert, zufrieden und mit neuen Perspektiven. Was uns Ärzt:innen beglückt sind geglückte Begegnungen. Eigentlich ist es das, was den Reiz unserer Tätigkeit ausmacht – Begegnungen, die wir genießen dürfen, für die wir uns Zeit nehmen wollen, die unsere Wirksamkeit und unseren Ruf begründen. Es ist die Vielfalt der kommunikativen Herausforderungen, die uns neben den fachlich medizinischen Herausforderungen zum Glück verhelfen.