Die WHO betrachtet die primäre Gesundheitsversorgung als einen Eckpfeiler nachhaltiger Gesundheitssysteme. Allgemein- und Familienmediziner:innen sind wichtige Anbieter dieser Primärversorgung.
Die WONCA Europe hat die Allgemein- und Familienmedizin als klinisches Fachgebiet und als eigenständige Disziplin mit eigenem Lehrplan und eigener Forschungsbasis definiert.
Als akademische Disziplin basiert die Allgemeinmedizin/Familienmedizin (AM/FM) auf Wissen und Methodik aus den Natur- und Geisteswissenschaften.
Allgemeinmedizin/Familienmedizin1 kann in unterschiedlichen Kontexten praktiziert werden, je nach den Merkmalen des jeweiligen Gesundheitssystems, des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Gemeinschaft. Das Fundament von AM/FM basiert jedoch auf den unten aufgeführten Grundwerten. Sie sind die wesentlichen Elemente guter Qualität in der hausärztlichen und medizinischen Versorgung und sollten einen Bezugsrahmen für unsere berufliche Identität bilden.
Hausärztinnen und Hausärzte/Fachärztinnen und Fachärzte für Allgemeinmedizin1 praktizieren eine personenzentrierte Medizin, die den Dialog, den Kontext und die besten verfügbaren Erkenntnisse in den Vordergrund stellt.
Sie berücksichtigen stets die Auswirkungen biologischer, psychosozialer und kultureller Determinanten auf die Gesundheit des/der Einzelnen.
Sie setzen sich professionell mit den aktuellen Lebenssituationen, biografischen Geschichten, Überzeugungen, Sorgen und Hoffnungen ihrer Patient:innen auseinander. Dies hilft, die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und der jeweiligen Krankheit zu erkennen und das Verständnis dafür zu vertiefen, wie Leben und Lebensereignisse den menschlichen Körper und Geist prägen. Allgemeinmediziner: innen fördern die Fähigkeit der Patient:innen, ihre individuellen und gemeinschaftlichen Ressourcen zu nutzen.
Allgemeinmediziner:innen kümmern sich vorrangig um diejenigen, deren Bedarf an medizinischer Versorgung am größten ist. Sie bieten eine gerechte Gesundheitsversorgung. Gerechtigkeit ist eine wesentliche Dimension der Qualität der Gesundheitsversorgung. Ziel ist es, Ungleichheiten bei der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen zu minimieren. Sie organisieren ihre Praxen so, dass sie denjenigen Zeit und Mühe widmen, die den größten Bedarf an Behandlung und Unterstützung haben. Allgemeinmediziner:innen sehen es als ihre Pflicht an, sich öffentlich zu gesellschaftlichen Faktoren zu äußern, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung und Ungleichheiten bei den Gesundheitsergebnissen beeinflussen. Sie sind sich besonders der gesundheitlichen Herausforderungen bewusst, denen sich bestimmte Gruppen in Bezug auf Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischen Status und religiöse Orientierung gegenübersehen.
Allgemeinmediziner:innen fördern die Kontinuität der Arzt-Patienten-Beziehung2 als zentrales Organisationsprinzip. Die Arzt-Patienten-Beziehung basiert auf persönlichem Engagement und Vertraulichkeit. Die Kontinuität der Versorgung trägt dazu bei, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und eine hochwertige, personenzentrierte Versorgung zu ermöglichen. Allgemeinmediziner:innen sind bestrebt, diese Kontinuität bei der Organisation ihrer Praxen zu wahren, unabhängig von der Größe, Zusammensetzung und Art des Primärversorgungsteams.
Allgemeinmediziner:innen bieten eine Versorgung auf der Grundlage der besten verfügbaren Erkenntnisse und respektieren dabei die Werte und Präferenzen der Patient:innen. Sie sorgen für eine rechtzeitige Diagnose und vermeiden unnötige Tests und Überbehandlungen. Überuntersuchungen, Überdiagnosen und Überbehandlungen können den Patient:in-nen schaden, Ressourcen verbrauchen und indirekt zu schädlichen Unterdiagnosen und Unterbehandlungen führen. Wenn gleich wirksame Maßnahmen zur Verfügung stehen, wählen sie die Maßnahmen auf der Grundlage von Kostenwirksamkeit und Patientensicherheit aus.
(berufliche Entwicklung, Aus- und Weiterbildung)
Allgemeinmediziner:innen engagieren sich weiterhin für Ausbildung, Forschung und Qualitätsentwicklung. Sie engagieren sich aktiv in der Ausbildung künftiger Kolleginnen und Kollegen und fördern die Einbeziehung junger Ärztinnen und Ärzte in organisatorische und grundsätzliche Entscheidungen über die Aus- und Weiterbildung in der Medizin. Sie implementieren und fördern Forschung, die für die Bedürfnisse von Allgemeinmediziner:innen relevant ist, und bewerten Wissen und Leitlinien kritisch mit einem konstruktiven und wissenschaftlichen Ansatz. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von medizinischem Wissen an ihre Patient:innen und ihr Umfeld. Um ihre langfristige Widerstandsfähigkeit als Pflegekräfte zu sichern, achten sie auf ihr eigenes Wohlbefinden.
Allgemeinmediziner:innen arbeiten berufs- und fachübergreifend zusammen und achten dabei darauf, Zuständigkeiten nicht zu verwischen. Sie integrieren verschiedene Programme und Dienste und beteiligen sich aktiv an der Entwicklung und Anpassung wirksamer Wege der Zusammenarbeit mit anderen Personen aus den Gesundheitsberufen und der Sozialarbeit.
Sie helfen Patient:innen, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden, und erleichtern die Kommunikation mit anderen Gesundheitsberufen.
Allgemeinmediziner:innen bieten medizinische Versorgung für Einzelpersonen und fördern die Gesundheit auf Gemeindeebene. Sie engagieren sich für politische und soziale Aspekte, die sich auf die Gesundheitsergebnisse auswirken, indem sie sich für die Gemeinschaft einsetzen.
Sie zielen mit ihrer Orientierung für das Gemeinwesen und sozialen Verantwortung darauf ab, die Gesundheitspolitik zu beeinflussen und gesundheitliche Ungleichheiten zu beseitigen, indem sie klinische Versorgung, öffentliche Gesundheit und soziale Dienste auf Gemeindeebene integrieren.
Anmerkung: Das Dokument wurde von der WONCA Arbeitsgruppe WE Core Values entwickelt, die sich aus folgenden Mitgliedern zusammensetzt:
Die Gruppe möchte Dr. Iona Heath für ihre unschätzbare Unterstützung in der sprachlichen Ausformulierung danken. Übersetzung aus dem Englischen für diese Ausgabe der ÖGAM-News: Dr.in Maria Wendler