Dr. Daniela Karall: Das Besondere an der Pädiatrie ist, dass sie das vielleicht letzte Fach ist, das alle Disziplinen und Spezialisierungen unter einem Dach vereint. Das Verbindende ist nicht das Fach oder eine Organspezialisierung, sondern die Altersspanne derer, die wir betreuen, also die 0- bis 18-Jährigen.
Und hier ist der Aspekt wichtig, dass wir Spezialisten sind, einerseits für die Erkrankungen, die die einzelnen Organe betreffen, andererseits aber auch für den sich entwickelnden Organismus, also das Kind – vom Baby bis zum Teenager.
Dem sich entwickelnden Kind beziehungsweise Jugendlichen gehört in der Versorgung auch entsprechend Rechnung getragen! Konkret bedeutet das, dass jedes Kind einen „hausärztlichen“ Ansprechpartner für die präventivmedizinischen Fragen und die spezifische Betreuung während des Wachstums braucht, wie es Impfungen oder Ernährungsberatung sind, sowie bei allgemeinen medizinischen Fragen – sei es bei Infekten et cetera, die einer Behandlung oder Betreuung im ambulanten Setting bedürfen. Idealerweise sollte diese Betreuung im niedergelassenen Bereich erfolgen, und idealerweise sollte jedes Kind/jeder Jugendliche von 0 bis 18 „seinen“ Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde haben.
Der zweite Bereich der pädiatrischen Versorgung betrifft den Bereich der spezialisierten Medizin, wo Kinder und Jugendliche, die einer spezialisierten Betreuung oder eines stationären Aufenthaltes bedürfen, selbstverständlich an Abteilungen betreut werden sollen, die auch die Fachexpertise in Pädiatrie haben.
Die beschriebene Idealsituation ist in Österreich flächendeckend nicht gegeben. Nicht in allen Gebieten gibt es einen Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, sodass wir um die gute Zusammenarbeit mit Allgemeinmedizinern sehr froh sind. Ich würde schätzen, dass ungefähr die Hälfte der Kinder und Jugendlichen von Allgemeinmedizinern betreut wird.
Gerade im ländlichen Bereich haben wir sehr gute eingesessene Strukturen, wo beispielsweise die Familien gewohnt sind, gemeinsam zum Hausarzt zu gehen. Da kommen zum Grippeimpfen alle mit, vom Großvater bis zu den Kindern. Das sind Strukturen, die man meines Erachtens auch stärken muss. Wenn hier ein guter Dialog zwischen Allgemeinmedizinern und Pädiatern möglich ist, wie er vielfach schon etabliert ist, dann ist sicher ein guter Zustand für die Versorgung im Speziellen der Kinder und Jugendlichen erreicht. In diesem Zusammenhang halte ich lokale Netzwerke für sehr wichtig, die gewährleisten, dass der Pädiater (die Kinderärzte) die Allgemeinmediziner (Hausärzte) in seiner Umgebung kennt und umgekehrt, um einen guten Austausch und eine gute Kommunikation zu ermöglichen.
Dort sehen wir uns mit einer anderen Situation konfrontiert. In den Ballungszentren und Städten ist die Versorgung durch Pädiater insofern einfacher, als die Dichte höher ist und auch die stationären Einrichtungen eher in Städten angesiedelt sind. Allerdings beobachten wir hier mit Sorge den Trend, dass heute auch in der Kinder- und Jugendheilkunde Spitals-ambulanzen auch bei Fragestellungen in Anspruch genommen werden, die eigentlich im niedergelassenen Bereich gut aufgehoben wären, es dort aber zum Beispiel in der Nacht und am Wochenende keinen Ansprechpartner gibt. Daraus entstand zunehmend ein Trend, gleich direkt Spitals-ambulanzen zu konsultieren. Das führt zu einer Ressourcenbeanspruchung, die nicht ideal ist.
Als zunehmendes Problem in der pädiatrischen Versorgung, insbesondere in den Ballungszentren, kommt hinzu, dass immer mehr Pädiater nicht in die Kassenpraxis gehen, sondern Wahlarztordinationen betreiben. Somit müssen Kassenpatienten auf weniger Kassenpraxen verteilt werden, sodass auch Ballungszentren ihre ganz eigenen Probleme haben.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, deshalb sind manche Dinge im Kindesalter anders; das betrifft Fragen zur Ernährung, zum Flüssigkeitsbedarf, zu Medikamentendosierungen et cetera. Es stellen sich auch manche Krankheiten ganz anders dar.
Beispielsweise kann eine Lungenentzündung bei einem sehr jungen Kind wie eine schwere Sepsis, aussehen, sich bei einem Kind im Kindergartenalter aber wiederum mit Oberbauchschmerzen äußern. Beim wachsenden Kind können sich also gut bekannte Krankheitsbilder anders darstellen.
Selbstverständlich sind unsere Kollegen in der Allgemeinmedizin, die Kinder betreuen, damit vertraut. Aber all das muss eben auch gelernt werden! Und hier beobachten wir die Ausbildung in den letzten Jahren mit Sorge.
Die Ausbildungszeit der Allgemeinmediziner mit spezifischen pädiatrischen Inhalten wurde immer weiter verkürzt. Ursprünglich erfolgten im Turnus 6 bis 9 Monate der Ausbildung an pädiatrischen Abteilungen. Jetzt sind es 2 bis maximal 3 Monate, was eine Verkürzung der Zeit auf ein Drittel bedeutet. Das ist zu wenig! Und es erzeugt ein Defizit, das junge Allgemeinmediziner bereits spüren und von dem sie berichten. Der Facharzt für Pädiatrie absolviert 63 Monate, also das 21-Fache.
Impfungen und Ernährung sind die beiden Bereiche, die uns präventivmedizinisch – nicht nur in der Pädiatrie, sondern insgesamt gesundheitlich – am meisten gebracht haben. Gleichzeitig sehe ich für uns als Pädiater dort derzeit die größten Herausforderungen.
Die Probleme in der Ernährung umfassen beide Extreme: Die in den letzten Jahrzehnten zunehmende Adipositas ist alarmierend; gleichzeitig beobachten wir Unterernährung und Fehlernährung. Da viele dieser Probleme bereits früh grundgelegt werden, ist das ein Bereich, in dem Pädiater gefordert sind. Es geht um Qualität und Quantität der Ernährung vom ersten Tag an. Die Beratung beginnt bereits mit der Stillförderung und dem Wissen, wie das Kind ernährt werden sollte, wenn das Stillen nicht möglich ist.
Bis vor wenigen Jahren war der Proteingehalt von Säuglingsformulanahrung im Vergleich zum Standardprodukt Muttermilch viel höher. Auch das trägt wahrscheinlich dazu bei, dass der Organismus von Anfang an darauf geprägt ist, zu viel Eiweiß und Kalorien zu sich zu nehmen. Hier gibt es in den letzten Jahren zunehmend Erkenntnisse, dass Formula-Nahrung nicht das gleiche wie Muttermilch ist, auch wenn wir das jahrzehntelang gerne geglaubt haben.
Teilweise in bestimmten Bevölkerungsgruppen: ja. In gewisser Weise ging durch den Wandel der Gesellschaft, wenn man das so hochtrabend sagen möchte, das Hausverstandswissen früherer Generationen hinsichtlich ausgewogener Gemischtkost (fast) verloren.
Man beobachtet bei Kindern aus Familien mit niedrigerem Bildungsstand eine höhere Tendenz zum Übergewicht. Umgekehrt sehen wir Fehlernährungen in zum Teil sehr hochgebildeten Kreisen. Selektive Ernährungsweisen (z. B. Veganismus) mögen für den Erwachsenen in Ordnung sein, für das wachsende Kind aber zum Nachteil sein.
Ja, und vieles davon fällt zum Großteil in den präventivmedizinischen Sektor. Allerdings ist unser Gesundheitssystem leider nicht besonders dafür ausgelegt, präventivmedizinische Listung zu fördern und zu entgelten.
Bei einer geschätzten Zahl von in Summe 6.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen kann man davon ausgehen, dass etwa 5 Prozent einer Bevölkerung von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. 50 Prozent dieser Erkrankungen werden im Kindesalter manifest, sodass ein großer Bereich der seltenen Erkrankungen in der Pädiatrie behandelt wird, weil auch historisch dort das Wissen darüber ist.
Seltene Erkrankungen sind oft Multisystemerkrankungen. Da wir Pädiater uns als Generalisten nicht nur mit einem Organsystem befassen, sondern „Zugang“ zu allen Organen haben, und gleichzeitig unter dem Dach der Pädiatrie auch alle Spezialisierungen vereinen, tut man sich in der Pädiatrie mit der Diagnose von seltenen Erkrankungen vermutlich etwas leichter, als wenn ein Mensch mit einer seltenen Erkrankung erst im Erwachsenenalter auffällig wird. Natürlich ist die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen insgesamt eine Herausforderung an das Gesundheitssystem, sowohl was die Diagnostik als auch was die Therapie betrifft.
Unser Credo lautet, dass „die Expertise reisen soll, nicht der Patient“. Das bedeutet, dass – soweit möglich – eine wohnortnahe Versorgung gewährleistet sein soll. Gleichzeitig ist wichtig, dass eine mittel- bis langfristige Anbindung an das Zentrum vorhanden ist, mit einer guten Durchlässigkeit und Kommunikation in den niedergelassenen Bereich hinein.
Beispielsweise wird ein Kind mit der Diagnose zystische Fibrose meist bereits im Neugeborenenscreening auffallen, dann am Zentrum abgeklärt werden und dort auch in regelmäßigen Abständen betreut werden. Gleichzeitig wird das Kind aber vom wohnortnahen Kinderarzt, unter Umständen auch vom Allgemeinmediziner, „hausärztlich“ versorgt sein; dazu zählt alles von Impfungen über Ernährungsberatung bis zur Verordnung von Physiotherapie, Pflegebehelfen et cetera. Alle 3 bis 6 Monate ist in der Regel ein Termin zur Nachkontrolle am Zentrum vorgesehen, wo mittelfristig die weitere Therapie festgelegt wird. Diese Information geht dann wieder an den niedergelassenen Kinderarzt zurück.
Wir bewegen uns hier in einem Dilemma: Viele Arzneimittel, die wir schon Jahrzehnte in der Pädiatrie verwenden, wurden in klinischen Studien klarerweise an Kindern nicht getestet und erfüllen somit die Zulassung für das Kindesalter nicht, sodass wir uns mit bis zu 70 Prozent der Verschreibungen im Off-Label-Bereich befinden. Um diese Lücke zu schließen, gibt es verschiedene Initiativen auch von pädiatrischer Seite, sowohl national als auch international.
In Österreich ist zum einen OKIDS, das Österreichische Studiennetzwerk für Arzneimittel und Therapien, als Tochtergesellschaft der ÖGKJ, zu nennen, bei dem es um sogenannte pädiatrische Investigationspläne und die Konzeption von Studien zu Neuzulassungen geht.
Als zweite Initiative ist die ÖGKJ-Arbeitsgruppe „Arzneimittel im Kindesalter“ zu nennen, die sich mit möglichen Zulassungserweiterungen altbekannter Medikamente, die wir schon lange verwenden, befasst und dazu Erfahrungsdaten sammelt und sichtet.
Unser Wunsch ist, dass erstens präventivmedizinische Maßnahmen besser gewürdigt werden und dass zweitens in der Ausbildung die Pädiatrie besser abgebildet wird! Dazu wäre es hilfreich, wenn die Möglichkeit der Lehrpraxis im pädiatrischen Bereich so wie bei den Allgemeinmedizinern ebenfalls aus öffentlicher Hand mitfinanziert würde.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Flüssigkeitsbedarf
Ein Neugeborenes (Alter 0–4 Wochen) hat einen Flüssigkeitsbedarf von 150 bis 200 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag, ein Säugling 100 bis 200 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Der Erwachsene mit 70 Kilogramm hat einen Flüssigkeitsbedarf von 1,5 bis 2 Liter pro Tag; das sind damit nur 20 bis 30 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht.
Dosierungen
Hinsichtlich der Medikamentendosierungen ist wiederum zu beachten, dass die Dosierungen angepasst an das Körpergewicht berechnet werden.
Altersspezifische Verstoffwechselung
Zum anderen ist auch der Metabolismus altersspezifisch verändert. Im Säuglingsalter ist die Darmdurchlässigkeit höher, sodass Substanzen leichter in den Blutkreislauf übergehen. Oder es kann sein, dass die Verstoffwechselung schneller erfolgt als beim Erwachsenen, sodass etwa bei einem Kind im Kindergartenalter bezogen auf das Körpergewicht höhere Dosierungen notwendig sein können, um gleiche Wirkspiegel zu erreichen.