Wir haben es dabei mit einem relativ neuen, aber noch in einem Lernprozess befindlichen Komplex zu tun“, betonte Univ.-Prof. Dr. Karl Stöger, Abteilung Medizinrecht, Universität Wien, in der von Univ.-Prof. Dr. Bernhard Schwarz, Präsident der Karl Landsteiner Gesellschaft, geleiteten Veranstaltung mit dem Überthema „Impfpflicht: Was ist das?“. Stöger präsentierte Darstellungen zu den juristischen Hintergründen im Rahmen der Einführung der Impfpflicht zur Bekämpfung der COVID-Pandemie und zu ihrer möglichen Durchsetzung von Hon.-Prof. Dr. Gerhard Aigner, langjähriger Sektionschef im Gesundheitsministerium und Mitarbeiter des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.
Der rechtliche Rahmen einer Impfpflicht ist jedenfalls eng. Zu beachten sind verfassungsrechtlich mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Datenschutzgrundverordnung und der Bundesverfassung. So legt zum Beispiel Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Absatz 1) fest: „Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privatlebens.“
Obligatorische medizinische Maßnahmen seien jedenfalls ein Eingriff in diese geschützte Privat- bzw. Intimsphäre, stellte Stöger fest. Absatz 2 von Artikel 8 der EMRK wurde dazu so zitiert, dass ein „Eingriff einer öffentlichen Behörde (…) „nur statthaft“ ist, „insoweit (…) gesetzlich vorgesehen“ und „zum Schutz der Gesundheit (…) oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig“.
Fazit, so der Medizin- und Gesundheitsrechtler: „Der Staat hat also einen gewissen Spielraum.“ In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EMGR) müssen für eine Impfpflicht relevante und ausreichende Gründe vorliegen. Eine Impfpflicht kann eine Maßnahme mit einem legitimen Ziel sein, wenn andere Mittel dazu nicht ausreichen.
Wie Stöger ausführte, dürfen Zwangsmaßnahmen aber nie überbordend sein. So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Verfahren, das Regelungen in Tschechien bezüglich Kinderimpfungen betraf, dass es für den Besuch von Kindergärten eine Impfpflicht geben kann. „Aber bei der Möglichkeit für Schulbildung hört sich das auf“, erklärte der Jurist. Hier überwiege das Recht von Kindern, die Schule – auch ungeimpft – besuchen zu können. Ein anderer Punkt, sind die möglichen Strafen bei Verletzung der Impfpflicht: Sie dürften nicht „überschießend“ sein, sagte Stöger.
Neuland betritt Österreich im Verwaltungsrecht. Hier war bisher die Erhöhung einer Strafe nach Einspruch im Verwaltungsstrafverfahren nicht möglich. Dies wird aber in Sachen Impfpflicht der Fall sein können. Jedenfalls kann keine zweite Strafe wegen anhaltender Verletzung der Impfpflicht ausgesprochen werden, solange ein Verfahren im ersten Anlassfall noch läuft.
Die wichtigsten Punkte, wie der Medizinrechtler darstellte: Eine Impfpflicht ist verfassungs- und grundrechtlich als Ultima Ratio im Interesse der öffentlichen Gesundheit bzw. zur Absicherung einer funktionsfähigen öffentlichen Gesundheitsversorgung zulässig. Sie setzt nicht den garantierten Ausschluss einer Infektion oder Erkrankung voraus. Es muss genügend wirksamer Impfstoff vorhanden sein. Die Sanktionen bei Verstößen müssen angemessen sein, eine Durchsetzung mit physischer Gewalt ist ausgeschlossen.
Es gibt klare medizinische Gründe für eine hohe Durchimpfungsrate gegen COVID-19. Die Impfpflicht ist eine politische Entscheidung, um diese zu erreichen. Der Effekt einer Impfpflicht muss dabei aber realistisch gesehen werden. „Von Anfang an war klar, dass die COVID-19-Impfung vor allem die Erkrankungsrate beeinflussen und schwere Erkrankungen verhindern kann, nicht aber unbedingt die Transmission des Virus“, sagte die Wiener Vakzinologin Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt, Medizinische Universität Wien, Mitglied des Nationalen Impfgremiums.
Nicht zuletzt sind dafür ganz grundlegende medizinische Faktoren verantwortlich. „Eine Impfung, die intramuskulär gegeben wird, hat eine systemische Wirkung. Sie kann nicht gleichzeitig einen zuverlässigen Schutz vor Infektion an der ‚Eintrittspforte‘ vermitteln“, erklärte die Expertin. Dies wäre im Falle von SARS-CoV-2 wohl nur mit einem nasal zu verabreichenden Impfstoff durch Immunität in den Schleimhäuten des Respirationstraktes möglich – ähnlich wie bei der nasalen Kinder-Vakzine gegen die Influenza.
Weiterhin sei auf einen hohen Durchimpfungsgrad zu drängen, betonte Ursula Wiedermann-Schmidt: „Die Hauptrisikogruppe sind auch mit der Omikron-Virusvariante die über 65-Jährigen. Das ist eine sehr große Gruppe, fast 20 % der Bevölkerung.“ Multimorbide und Menschen mit geschwächtem Immunsystem, zum Beispiel Krebskranke, seien ebenfalls besonders gefährdet. „Wir rechnen bei 4 bis 7 % der Bevölkerung mit geschwächtem Immunsystem. Das sind in Österreich rund 300.000 Menschen.“ Hinzu kämen jene Personen, die nicht geimpft werden könnten und ebenfalls auf größtmöglichen Schutz durch die Geimpften angewiesen sind. Die Vakzinologin: „Das sind zum Beispiel Kinder unter fünf Jahren.“
Aus hohen Ansteckungsraten, wenn auch möglicherweise aus einem milderen Verlauf von Erkrankungen im Rahmen der Omikron-Welle, folge, dass „85 bis 90 % bei der Durchimpfungsrate als Ziel erreicht werden müssen, damit die Zirkulation des Virus und Folgeschäden verhindert werden können − und zwar für den Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft“, betonte Ursula Wiedermann-Schmidt.
Parallel zur Impfpflicht müsse es jedenfalls entsprechende Begleitmaßnahmen geben. „Es ist ganz essenziell, dass wir die Aufklärungsarbeit über die Impfung und deren Qualität erhöhen müssen“, sagte die Vakzinologin. Da müsse man mehr auf die Menschen und die einzelnen Gruppen der Bevölkerung zugehen. Gute Beispiele gebe es da aus den Kampagnen rund um die Pflichtimpfungen für Kinder in Frankreich und den USA. Der zweite Schritt müsse eine begleitende Surveillance sein. „Mit der Einführung der Impfpflicht sollte es zu einem Rückgang der Zahl der Infektionen und zu einem Rückgang der Hospitalisierungen kommen.“ Dies müsse auch belegt werden.
Die dritte Komponente ist laut der Expertin die penible Überwachung der Sicherheitsaspekte der COVID-19-Impfung durch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG). „In Österreich wurden bereits rund 17 Millionen Impfungen verabreicht. Es gab rund 45.000 Meldungen über potenzielle Nebenwirkungen, die zehn häufigsten davon sind temporäre Reaktionen, die auch in den Zulassungsstudien gemeldet wurden, wie Fieber, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Schmerzen an der Impfstelle etc. Das entspricht einem Anteil von 0,25 %“, sagte Ursula Wiedermann-Schmidt. Extrem selten seien echte Impfschäden. Hier komme es pro Jahr – auch abseits von COVID-19 – in Österreich zu rund zehn Meldungen. Die Anerkennungsrate liege bei 10 %. Bisher seien rund 400 Ansuchen bzgl. COVID-Impfungen eingelangt. Es sei davon auszugehen, dass nach den Gutachten wiederum etwa 10 % anerkannt würden. Nähere Informationen zu Nebenwirkungsmeldungen: info.gesundheitsministerium.at
Einen breiten Bogen spannte schließlich Univ.-Prof. Dr. Ulrich Körtner, Leiter des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. „Was für eine allgemeine Impfpflicht spricht“, fasste der Theologe in Thesen zusammen. Hier einige davon:
Breit diskutiert werde derzeit im Zusammenhang mit der Impfpflicht auch das „Recht auf Kranksein“ in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen. Doch, so der Medizinethiker: „Die Grenzen meiner Freiheit und meines Rechts auf für mich riskantes und möglicherweise selbstschädigendes Verhalten sind freilich dort erreicht, wo mein Verhalten andere Menschen in Gefahr bringt.“ Wer sich impfen lasse, trage auch zum Schutz besonders vulnerabler Personen und Bevölkerungsgruppen bei. „Sich impfen zu lassen liegt nicht nur im wohlverstandenen Eigeninteresse. Es ist auch ein Akt der Solidarität. Der Gedanke des Gemeinwohls habe während dieser Pandemie zunehmend gelitten. Ihn gilt es neu im allgemeinen Interesse zu verankern“, sagte der Medizinethiker.