Sich dem Problem des Diabetes zu stellen gehört nach wie vor zu den größten Herausforderungen jedes Betroffenen wie auch seines behandelnden Arztes. Der Beginn der Insulinära vor 90 Jahren kann dabei mit Fug und Recht als einer der medizinischen Höhepunkte des letzten Jahrhunderts angesehen werden. Umso bedauerlicher, dass seither Fortschritte am Diabetessektor meist weniger spektakulär ausgefallen sind. Stecken im Bezug auf Krankheitsverständnis und Behandlungsvarianten sicherlich ganz andere Möglichkeiten als früher im Talon, so ist das Problem der Hypoglykämie für den auf Insulin angewiesenen Diabetiker nach wie vor ungelöst. Über die komplexen, pathophysiologischen Mechanismen wird in diesem Artikel allerdings nicht näher eingegangen. Anhand zweier Fallbeispiele soll die grundlegende Problematik erörtert und ein Überblick über Fallen der modernen Insulintherapie im Bezug auf Hypoglykämien gegeben werden.
Ein bereits herzkranker, 63-jähriger Patient mit Typ-1-Diabetes unter einem unzureichend funktionierenden FIT-Regime („Funktionelle Insulintherapie“) stellte sich an einem Freitagnachmittag an der Notaufnahme eines Krankenhauses nach schwerer Hypoglykämie vor. Er erhielt zu diesem Zeitpunkt als Basalinsulin Insulin glargin sowie Insulin aspart zur Korrektur. Bei vorbestehender koronarer Herzkrankheit und dem damit verbundenen zusätzlichen Risiko im Falle neuerlicher Hypoglykämien entschloss man sich angesichts des ersichtlichen, stark schwankenden Blutzuckerprofils zu einem radikalen Therapieeingriff: Das Basalinsulin wurde kurzerhand gestrichen, und man entließ den Patienten mit der Bitte, sich ehebaldigst bei seinem behandelnden Zentrum zur Reevaluierung einzufinden. Der Patient pausierte wie gewünscht die basale Insulingabe, die Zuckerspiegel stiegen daraufhin prompt trotz wiederholter Korrekturversuche immer mehr an. Am Sonntagvormittag begann der Patient zusätzlich heftig zu erbrechen, am Nachmittag rief er schlussendlich die Rettung, der Blutzucker betrug mittlerweile > 400 mg/dl. In der Notfallambulanz eines anderen Krankenhauses angekommen, bestand in der Akutserologie weiters eine metabolische Ketoazidose. Unter symptomorientierter Therapie und parenteraler Insulingabe gelang jedoch eine rasche Stabilisierung, der Patient wurde – mittlerweile beschwerdefrei – zur weiteren Observation aufgenommen. Da kam dem aufnehmenden Arzt allerdings das EKG suspekt vor, eine Kontrolle zeigte infarkttypische Hebungen über der Hinterwand, bei korrespondierenden Herzfermenten wurde der Patient innerhalb einer Stunde einer Katheterintervention zugeführt.
Kommentar:
Dieses – nicht erfundene – Beispiel illustriert die komplexen Zusammenhänge und vielen Fallstricke einer Insulintherapie. So löste die zur Vermeidung nachfolgender Hypoglykämien veranlasste Pausierung des Basalinsulins eine Kaskade aus, die beinahe in einer Katastrophe mündete. Trotzdem ist so ein Vorgehen im Falle einer KHK pathophysiologisch prinzipiell begründbar: Zu tiefe Zuckerwerte lösen in der Tat sympathikotone Gegenmaßnahmen und eine Adrenalinfreisetzung aus. Darauf folgende Tachykardien und Blutdruckexzesse scheinen Plaquedestabilisierungen zu begünstigen, denen zerebrale oder kardiale Ischämien nachfolgen können. Diese Annahme wird von einigen Fallberichten sowie kleineren Studien gestützt. Trotzdem muss natürlich eine – auch nur kurzfristig angedachte – völlige Abnabelung des Typ-1-Diabetikers von seinem Basalinsulin, wie in diesem Beispiel, sehr kritisch betrachtet werden, zumal die rasante Stoffwechselentgleisung unterstreicht, dass solche Therapieeingriffe nur nach Sicherstellung engmaschigster Nachfolgekontrollen verantwortbar sind.
Ein 30-jähriger Patient mit Typ-1-Diabetes war auf eine intensivierte Basis-Bolus-Therapie eingestellt worden. Die Schulung verlief hervorragend, der Patient verhielt sich in allen Aspekten der Krankheitsbewältigung vorbildlich. Bei einem Ausgangs- HbA1c von 6,9% wurde daher erst nach einem halben Jahr eine Verlaufskontrolle vereinbart. Es kam jedoch anders: Bereits drei Monate später erschien der Patient, verzweifelt, mit einem katastrophalen Blutzuckerprofil, wobei insbesondere die wiederholte Unterzuckerungen bis < 40 mg/dl die Lebensqualität stark beeinträchtigt hatten. Der Zucker schwang aber auch heftig nach oben aus, der Patient war daher gezwungen gewesen, Insulindosen sukzessive zu erhöhen, was die Hypoglykämieneigung noch verstärkt und den Teufelskreis komplettiert hatte. Musterpatient, der er war, hatte der Betroffene bereits zweimal den Insulinpen ausgetauscht, die Kühlung des Eiskastens überprüfen lassen und so manche Insulinpatrone noch vor dem Aufbrauchen weggeworfen, da sie in seinen Augen mögliche Zeichen der Verunreinigung aufwies.
Bei der vorzeitigen, ambulanten Kontrolle war ein systematischer Rechenfehler seitens des Patienten der erste Verdacht des zuständigen Kollegen, dieser konnte aber dank der genauen Dokumentation rasch ausgeschlossen werden. Nachdem immer abstrusere, differenzialdiagnostische Gedankenspiele gewälzt worden waren, kam der Ambulanzschwester schließlich der rettende Einfall: Sie ließ sich die Einstichstellen zeigen. Dabei stellte sich heraus, dass der Patient eigentlich keine Einstichstellen hatte, da er nämlich nur an einer einzigen Stelle am Bauch das Insulin applizierte. Die Redundanz der Stechgewohnheit hatte nach einigen Wochen zu einer Lipohypertrophie der Einstichstelle geführt, die damit verhinderte, dass eine konstante Resorption aus dem Fettgewebe gewährleistet war. Damit waren die offenbar gravierenden Zeitunterschiede in der Insulinwirkung erklärt und die Blutzuckerschwankungen naturgemäß auch. Eine Nachschulung löste alle Probleme in Wohlgefallen auf.
Kommentar:
Lipohypertrophie war ein früher häufig beobachtetes Phänomen, zu einer Zeit, als Insulin noch von Schweinen und Rindern gewonnen wurde. Heutzutage ist seine Bedeutung wesentlich geringer, wenn auch die Prävalenz beim Typ-1-Diabetiker immerhin 20–30% beträgt. Ursächlich dürften neben der Stichtechnik auch Faktoren wie immunologische Veranlagung, Insulinsorten, Stechfrequenz und Art des verwendeten Nadelmaterials eine Rolle spielen. Gerade bei unerklärlichen, häufig bizarren Blutzuckerschwankungen ist ein kurzer Blick auf Einstichstellen und das Abtasten auf tumorartige Schwellungen in diesem Bereich zu empfehlen, im Zweifelsfall kann ein Ultraschall weiterhelfen.
Lebenslange Insulinsubstitution ist bei nahezu allen Typ-1-Diabetikern nach wie vor Grundlage des Überlebens. Alle Ratschläge und Therapien resultieren dabei letztlich aus der weiterhin unerreichbaren Vorgabe, die Funktionen der Betazelle physiologisch nachzuahmen. Die Unterzuckerung stellt hierbei das entscheidende Limit dar und fungiert nicht nur quasi wie ein böser Schatten für den auf Insulin angewiesenen Diabetiker, sondern stellt auch einen wesentlichen Risikofaktor in sich selbst dar. Man schätzt, dass die überwiegende Zahl der Typ-1-Diabetiker pro Jahr wenigstens eine schwere Hypoglykämie (= benötigt Fremdhilfe) erleidet. Dabei können neben der akuten, neurologischen Beeinträchtigung und dem hervorgerufenen Stress auch andere, potenziell letale Phänomene – wie kardiale Arrhythmien – auftreten. Manche Experten schätzen sogar, dass 6–10% aller Todesfälle von Typ-1-Diabetikern mit einer vorangegangenen Hypoglykämie assoziiert werden müssen. Trotzdem sind Fortschritte hinsichtlich Insulintherapie in den letzten Jahrzehnten überschaubar geblieben. Der letzte große Entwicklungsschritt gelang Ende des letzten Jahrtausends mit Einführung der Insulinanaloga. Durch den Austausch bestimmter Aminosäuren gelang es, die pharmakologischen Eigenschaften so zu verändern, dass man der physiologischen Insulinausschüttung zumindest einen kleinen Schritt näher gekommen ist. Bereits das erste für die klinische Anwendungen zugelassene Präparat, Insulin lispro (Humalog®), brachte neben anderen Vorteilen eine geringere Rate an Hypoglykämien, insbesondere nachts, um bis zu 50%. Besonders wertvoll im Kampf gegen Unterzuckerungen sind jedoch lang wirksame Insulinanaloga – Insulin glargin (Lantus®), bzw. Insulin detemir (Levemir®). In einer Metaanalyse aus 17 Studien war in immerhin 14 dieser Studien die Rate an Hypoglykämien unter Insulin glargin signifikant niedriger als bei NPH-Insulinen. Dieser Trend wird auch durch neueste Insulinentwicklungen prolongiert: Das in Zulassung befindliche, ultralang wirksame Insulin degludec konnte in zwei rezent publizierten Phase-III-Studien mit Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetikern eine Verringerung an Unterzuckerungen – bei Typ-1-Diabetikern vor allem nachts – im Vergleich mit Insulin glargin nachweisen.
Literatur beim Verfasser