Innovationen der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde 2016

Siegeszug der Hörimplantate

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner, Vorstand der Univ.-HNO-Klinik, Medizinische Universität Wien: „Viele moderne Errungenschaften der Medizin kommen aus der HNO. Die minimalinvasive Chirurgie mit Endoskopen wurde in der HNO entwickelt, ebenso das Operationsmikroskop und Operationen mit dem CO2-Laser. Und es gelang der HNO als erster Disziplin, ein menschliches Sinnesorgan zu ersetzen: Das Gehör ist das derzeit einzige Sinnesorgan, das durch ein medizinisches elektronisches Implantat vollständig ersetzt werden kann. Dieser medizinische Fortschritt ist bereits standardisiert, und tausende Menschen profitieren schon davon. Durch die laufende Weiterentwicklung stehen nun auch für spezielle und besonders herausfordernde Hörbeeinträchtigungen Implantat- und Operationsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Forschung der Universitäts-HNO-Klinik in Wien ist schwerpunktmäßig darauf ausgerichtet, die Hörrehabilitation – mit und ohne Implantat – laufend zu verbessern. Dies ist auch dringend notwendig, da 1,6 Mio. Österreicher von leichten bis schweren Hörschäden betroffen sind (ca. 22% der Erwachsenen) und ca. ein Prozent der Bevölkerung an einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit leidet.

Sehr gute Chancen für taub geborene Kinder

Ein bis zwei von 1.000 Kindern werden in Österreich mit einer Hörschädigung geboren. Die Gehörschädigung ist daher die häufigste Beeinträchtigung von Neugeborenen. Für Österreich bedeutet das, dass bei ca. 76.000 Geburten pro Jahr ca. 230 Kinder hörbeeinträchtigt sind (Neugeborenen-Hörscreening). Gstöttner: „Dank einer konsequenten Weiterentwicklung der medizinischen Implantat-Technik werden heute taub geborene Kinder im 1. Lebensjahr implantiert und entwickeln nach der Implantation ein Hörvermögen, das hörgesunden Kindern sehr ähnlich ist.“
Hörimplantate wurden ursprünglich für völlig taube Patienten entwickelt. In den letzten Jahren stehen aber auch implantierbare Hörsysteme für mittelgradig hörgeschädigte Patienten zur Verfügung. Das ist dann von besonderer Bedeutung, wenn ein konventionelles Hörgerät nicht angewendet werden kann.
Implantate haben einen getrennten Sprachprozessor mit Mikrofon. Ein winziger Computer bereitet die durch das Mikrofon am Ohr empfangenen Tonsignale auf. Als elektrische Impulse werden sie an den Hörnerv übermittelt. Das Gerät wird unter die Haut gesetzt, die damit verbundenen Elektroden werden im Innenohr befestigt. So wird das Hören fast aller Frequenzen ermöglicht.
„Sogar bei Erkrankungen des Hörnervs, wie zum Beispiel bei der Neurofibromatose, kann nun das Implantat auch direkt am Hirnstamm angekoppelt werden, um das Hören wieder zu ermöglichen“, so Gstöttner.

Was im Kuhstall vor Allergien schützt

Univ.-Prof. Dr. Verena Niederberger-Leppin, Oberärztin an der Univ.-HNO-Klinik, Medizinische Universität Wien: „Die Zunahme der Erkrankungshäufigkeit ist im letzten Jahrhundert eklatant: Um 1900 geht man von einer Allergiehäufigkeit von unter einem Prozent aus. In den 1990er-Jahren von zirka 25% der österreichischen Bevölkerung. Die Ursachen für diesen Anstieg sind noch nicht völlig geklärt. Jedenfalls bleibt der Anteil seit den 1990-Jahren stabil: „Bei der Volksbefragung in den Jahren 2006 und 2007 gaben 639.000 Frauen und 456.000 Männer in Österreich an, an einer Allergie zu leiden.“
Studien aus dem Raum Österreich und Bayern haben gezeigt, dass Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, wesentlich seltener Allergien haben. Die Ursache dafür war lange nicht bekannt. Kürzlich wurde in der renommierten Zeitschrift Science eine Erklärung publiziert: Oberflächliche Schleimhautzellen des Atmungstraktes können entzündungsfördernde Stoffe ausschütten, die direkt das Immunsystem aktivieren können. In Bakterien des Stallmistes sind Lipopolysaccharide enthalten, die diese Ausschüttung hemmen. Diese Studie zeigt, wie wichtig die Schleimhaut für die Allergieentstehung ist.
Es gibt seit mehreren Jahren ein HNO-Forschungsprojekt, an dem österreichische Institute beteiligt sind, das sich gezielt dem Thema Schleimhaut und Entzündung widmet. Dabei wird untersucht, welche Stoffe den Durchtritt von Allergenen durch die Nasenschleimhaut fördern oder hemmen. „Es wurde gezeigt, dass Zigarettenrauch, Rhinovirusinfektionen und bestimmte Entzündungsstoffe den Durchtritt von Allergenen durch die Schleimhaut fördern. Derzeit wird nach den Stoffen gesucht, die die Schleimhaut schützen können. Ziel ist die Entwicklung von Lokaltherapien“, so Niederberger-Leppin.

Der Kehlkopfschrittmacher – Forschungserfolg aus Österreich

„Rund 1.000 Personen in Österreich und Deutschland erkranken jährlich an beidseitiger Stimmlippenlähmung, weltweit sind es mehrere Zehntausend. Mit Ende der 1990er-Jahre versuchten erste Forschungsgruppen durch künstliche elektrische Stimulation die Funktion des Kehlkopfs wiederherzustellen. Erst in den letzten Jahren gelang einer österreichisch-deutschen Forschungsgruppe der Durchbruch mit der Entwicklung des Kehlkopfschrittmachers. Ende 2012 konnten wir gemeinsam an den Universitätskliniken Innsbruck, Würzburg und Klinikum Gera, in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Hörimplantathersteller MED-EL, den weltweit ersten funktionsfähigen Nervenstimulator für Stimmlippenlähmungen am Patienten erfolgreich einsetzen“, erläutert Univ.-Doz. Dr. Claus Pototschnig, MSc, Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Medizinischen Universität Innsbruck. „Inzwischen wurde eine erste Humanstudie erfolgreich abgeschlossen. Unter den Studienteilnehmern gab es Patienten, die bereits mit einem Luftröhrenschnitt versorgt waren. Dieser konnte bei den Betroffenen, dank des Implantats, dauerhaft verschlossen werden. Die Erwartungen an den Kehlkopfschrittmacher sind hoch: „Eine wesentliche Verbesserung der Atmung, ohne dabei die Stimme zu beeinträchtigen, sowie eine bedeutende Steigerung der Lebensqualität durch die verbesserte Belastungsfähigkeit und einer Reduktion von Begleiterkrankungen der Patienten.“
Das neu entwickelte Implantat wird am Brustbein unter die Haut implantiert und stimuliert über spezielle Elektroden die Kehlkopfnerven. So öffnen sich über die zugehörigen Muskeln eine oder beide Stimmlippen, abhängig von der individuellen Patientensituation. Die richtigen Informationen und Energie erhält das Implantat über einen externen Prozessor, der per Magnet über dem Implantat auf der Haut haftet und induktiv Daten überträgt, ähnlich einem Cochlea-Implantat. Zusätzlich wurde eine eigene, geringinvasive Implantationstechnik entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Betroffene können zudem bereits vor einer Implantation getestet werden, um herauszufinden, ob ihnen das Implantatsystem helfen wird.
In der ersten Studie wurde bei Patienten nur eine Seite des Kehlkopfs elektrisch stimuliert. Es konnten bereits die Sicherheit des Schrittmachers und dessen Wirksamkeit nachgewiesen werden. In einer weiteren Studie sollen die festgestellten positiven Trends anhand einer größeren Patientengruppe bestätigt werden. Zukünftig sollen Patienten auch beidseitig versorgt werden. Der Schrittmacher wird nun weiter optimiert, um in einer größer angelegten Studie getestet werden zu können. Die Universitätskliniken Wien, Graz, Mannheim, Berlin und Stuttgart wurden als neue Partner gewonnen.
Bestätigt sich bei weiteren Implantationen der Erfolg des Schrittmachers, ist davon auszugehen, dass viele Patienten wieder einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können und dass deren Lebensqualität erheblich verbessert wird. Um einen hohen Qualitätsstandard zu gewährleisten, ist geplant die Implantation nur in spezialisierten Zentren anzubieten.

Tonsillektomie bei Kindern: Umdenken nach Todesfällen

Eingriffe am lymphatischen System im HNO-Bereich sind in den westlichen Industrieländern rückläufig – besonders stark in Österreich, und da vor allem bei Kindern. MR Dr. Wilhelm Streinzer, HNO-Facharzt in Wien, HNO-Bundesfachgruppenobmann der ÖÄK: „Bis 2002 hatte Österreich eine hohe Operationsfrequenz im Vergleich zu den Nachbarländern. Zum Teil bestehen sehr starke regionale Unterschiede in den einzelnen Staaten und im Vergleich der Staaten untereinander. OP-Frequenzen in Ungarn und Tschechien sind hoch, in Italien und der Schweiz niedrig, Österreich nähert sich durch den OP-Frequenzrückgang immer mehr Deutschland an.“

In den Jahren 2006 und 2007 starben insgesamt fünf Kinder unter sechs Jahren nach Mandeloperationen. Diese tragischen Todesfälle führten zu Änderungen hinsichtlich OP-Indikation und OP-Technik und einem deutlichen Rückgang der Operationen. Die früher häufige Tonsillektomie wird seitdem bei Kindern deutlich seltener angewendet. Stattdessen wird der Tonsillotomie, der Verkleinerung der Mandeln mit Belassen der Tonsillenkapsel, der Vorzug gegeben. Die Nachblutungsrate ist bei der Verkleinerung der Gaumenmandeln deutlich geringer als bei der kompletten Ausschälung.

Bei Kindern vor dem sechsten Lebensjahr sollte keine Tonsillektomie, sondern eine Tonsillotomie und/oder eine Adenoidektomie durchgeführt werden. Bei Erwachsenen sollten keine Mandeloperationen bei Zustand nach Abszess (Intervalltonsillektomie) bei unauffälligen Mandeln und keine Mandeloperationen bei bloßem Verdacht auf einen Krankheitsherd durchgeführt werden. In besonders gelagerten Fällen muss aber von diesen Empfehlungen abgewichen werden.

Die intraoperativen Blutstillungsverfahren wurden geändert, und in der präoperativen Diagnostik erhielten Aufdeckungen von Blutungsneigungen einen höheren Stellenwert.

Gleich im Jahr 2007 veröffentlichten die Österreichischen Gesellschaften für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie sowie für Kinder- und Jugendheilkunde eine gemeinsame Empfehlung zur Entfernung der Gaumenmandeln. Darin sind drei Hauptindikationen zur Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern definiert:

  1. Hyperplasie der Gaumenmandeln mit Luftwegeobstruktion
  2. wiederholte, schwere Infektionen der Gaumenmandeln
  3. Verdacht auf einen bösartigen Tumor der Gaumenmandeln

Der Rückgang der Operationsfrequenzen von 2002 bis 2014 ist sehr deutlich: bei der Adenotomie liegt er bei 40%, bei der Tonsillektomie sogar bei 62% über alle Altersgruppen. Der Ausgangspunkt 2002 waren jeweils etwa 22.000 Eingriffe. Der Rückgang bei der Tonsillektomie war in den Jahren von 2002 bis 2010 besonders stark, seither ist er annähernd konstant.
Bei Personen über einem Alter von 15 Jahren wurden um 37% weniger Mandeloperationen durchgeführt, bei Kindern zwischen sechs und 15 Jahren um 56% weniger und bei Kindern bis fünf Jahren sogar 87%.

 

 

Das Usher-Syndrom:neue zukünftige Therapieoptionen

Mag. Dominique Sturz, Stv.-Vorsitzende des neu gegründeten Forums für Usher-Syndrom, Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit: „Unser Forum hat sich nicht nur die Vernetzung und Unterstützung von Betroffenen und deren Familien zur Aufgabe gemacht, sondern möchte im Besonderen die wissenschaftliche Community, die Ärzteschaft und die Gesundheitspolitik auf diese seltene Erkrankung aufmerksam machen. Denn in Österreich fehlen sowohl Kompetenzzentren zur Früherkennung des Usher Syndroms als auch die Anbindung an die internationale Forschung (Therapieentwicklung) und der Zugang zu klinischen Studien. Sogar in Fachkreisen ist das Wissen über Diagnostik, Krankheitsverlauf und Zukunftsperspektiven von Morbus Usher bei weitem ungenügend.“
Das Usher-Syndrom ist eine erblich bedingte Hörsehbeeinträchtigung. Sie verläuft progredient und ist die häufigste Ursache für Taubblindheit. Bei mehr als 50% der taubblinden Erwachsenen und 50% der jungen Menschen mit kombinierter Hörsehbeeinträchtigung ist das Usher Syndrom Auslöser.
„Statistische Daten aus den USA weisen darauf hin, dass rund 14 von 100.000 Menschen am Usher Syndrom erkrankt sind. Dies bedeutet für Österreich, dass rund 1.000 Menschen in unserem Land damit leben. Die Dunkelziffer könnte aber noch viel höher sein, da Diagnosen oft fehlen oder sehr spät erfolgen“, so Sturz.
Beim Usher-Symptom werden 3 Subtypen unterschieden, wobei Usher Typ 1 zusätzlich zur kombinierten Hör-Seh-Beeinträchtigung eine Störung des Gleichgewichtssinns verursacht. Bei 10% der taub geborenen Kinder ist die Ursache-Usher Typ 1.
Sturz: „Nach dem Neugeborenen-Hörscreening ist der HNO-Facharzt der erste Ansprechpartner und die erste Chance auf eine zielgerichtete Diagnosestellung, welche im Falle eines Usher-Syndroms und anderer syndromaler Erkrankungen mit Hörstörung ausschließlich durch einen Gentest erfolgen kann. Er wirkt also nicht nur bei der Entscheidung über Hörgeräte (bei Schwerhörigkeit) oder Cochlea-Implantaten (bei Taubheit) mit, sondern überweist auch zum Genetiker zur Abklärung der Ursache, danach muss der Netzhautspezialist für einen Augenstatus miteinbezogen werden.“
Gegen den fortschreitenden Sehverlust durch die Netzhautdegeneration Retinopathia pigmentosa gibt es zwar noch keine zugelassene Therapie, aber einige Therapieansätze gegen Erblindung oder zur Wiederherstellung des Sehvermögens sind international in Entwicklung und im Stadium klinischer Studien mit Patienten.