Interaktion von Parodontitis und Diabetes mellitus

Die Interaktion zwischen parodontaler Erkrankung und Diabetes mellitusist Beispiel einer zyklischen Assoziation, bei der eine systemische Erkrankung ein anfälliges Individuum zu einer oralen Infektion prädisponiert und diese nachoraler Etablierung in ihrem Verlauf verschlechtert.
Allgemeinmedizin und Zahnheilkunde sind Fächer, die üblicherweise unabhängig voneinander Patienten betreuen, was durch die Trennung der universitären Ausbildung zusätzlich gefördert wurde. Neueste Forschung unterstreicht jedoch immer deutlicher, dass die orale Gesundheit und die allgemeine Gesundheit einander beeinflussen und unter bestimmten Umständen in beidseitiger Abhängigkeit stehen können. Dies trifft im Besonderen für die Verbindung zwischen Parodontitis und Diabetes zu.

Pathogenese der Parodontitis

Parodontale Erkrankungen sind chronisch entzündliche Erkrankungen, ausgelöst durch eine individuelle Wirtsantwort auf bakterielle Biofilme, die im Bereich des Zahnfleischsaumes und in fortgeschrittenen Stadien in Zahnfleischtaschen an Zahn- und Wurzeloberfläche siedeln. Das klinische und pathophysiologische Erscheinungsbild ist von Schwellung und Blutung der Weichgewebe und in der Folge Taschenbildung und Knochenabbau geprägt, was sich als Verlust des zahntragenden Halteapparates manifestiert.
Die entzündliche Wirtsantwort auf die mikrobielle Belastung ist individuell unterschiedlich und charakterisiert durch ein komplexes Netzwerk verschiedenster proinflammatorischer Mediatoren und Enzyme – wie C-reaktives Protein (CRP), Zytokine, Prostaglandine, Matrixmetalloproteinasen (MMP) und andere –, die ursächlich für die Gewebedestruktion verantwortlich sind. Als Folge von Ulzerationen der Taschen-Epithelbarriere und der entzündlichen Degradation des Zahnhalteapparates kann es zur Ausschwemmung von Mikroorganismen und mikrobieller Produkte als auch wirtseigener entzündlicher Stoffe kommen, die zur systemischen Belastung und Förderung allgemeiner Komplikationen beitragen. Auch können bestimmte parodontopathogene Keime aktiv über unterschiedliche Mechanismen die Wirtsbarriere überwinden und den Organismus systemisch belasten.
Die physiologisch ausgewogene Balance zwischen wirtsprotektiven Faktoren und der mikrobiellen Herausforderung wird maßgeblich von inhärenten genetischen als auch erworbenen milieu- und verhaltenskorrelierten Risikofaktoren beeinflusst. Dies ist auch der wissenschaftliche Hintergrund einer erhöhten Parodontitisgefährdung bei Diabetikern.

Diabetes mellitus als Parodontitis-Risikofaktor

Seit den grundlegenden Studien mit Pima-Indianern, die eine deutlich erhöhte Prävalenz und Inzidenz parodontaler Erkrankungen bei Individuen mit Typ-2-Diabetes zeigten, haben zahlreiche große epidemiologische Studien Diabetes mellitus als bedeutenden Risikofaktor zur Entwicklung parodontaler Erkrankungen identifiziert. Die Evidenz legt nahe, dass parodontale Veränderungen oft die ersten klinischen Manifestationen eines Diabetes sind, und sie werden demnach als „sechste diabetische Komplikation“ beschrieben. Diabetespatienten zeigen einen verstärkten parodontalen Zusammenbruch als Reaktion auf dentale Biofilme, was zusätzlich vom Ausmaß der glykämischen Belastung abhängt. Höhere Entzündungswerte der Gingiva und schwerere parodontale Erkrankungsverläufe sind mit schlechter glykämischer Kontrolle verbunden, was mit erhöhten Werten von glykiertem Hämoglobin (ab HbA1c ≥ 8–9 %) assoziiert ist.

Jüngste Studien zeigen auch eine positive Korrelation zwischen Fettleibigkeit (Body Mass Index ≥ 30 kg/m2) und Parodontitis. Als mögliche Verbindung beider Umstände wird ein hyperinflamma-torischer Zustand und fehlgeleiteter Lipidstoffwechsel als auch eine zunehmende Insulinresistenz bei Fettleibigkeit vermutet. Parodontale Erkrankungen und Diabetes teilen sich gemeinsame pathogene Mechanismen, die als individuelle überreaktive oder maladaptive Antworten des Immunsystems auf spezifische Wirtsstressoren anzusehen sind.

Die Auswirkungen einer Hyperglykämie auf die orale Gesundheit können drei pathologischen Mechanismen zugeschrieben werden:

  • Orale Flüssigkeiten (Speichel, Sulkusflüssigkeit) spiegeln erhöhte Blutzuckerwerte wider und beeinflussen die Wachstumsbedingungen des oralen Habitats, was in der Folge den reaktiven entzündlichen Prozess fördert.
  • Die Konzentration fortgeschritten glykierter Endprodukte (advanced glycation endproducts – AGE) wird erhöht. Durch diese pathologische biochemische Glykierung werden auch die funktionalen Fähigkeiten bedeutender Strukturmoleküle des Parodontiums, wie Typ-1-Kollagen oder Laminin, nachhaltig verändert. Rezeptorvermittelte (RAGE) Interaktionen mediieren immunologische Langzeiteffekte, die konsekutiv zur systemischen Degradation von Bindegewebe und im Speziellen zu Destruktion und Abbau des Zahnhalteapparates führen.
  • Erhöhte Expression von matrixgebundenen Metalloproteinasen (MMP-8, -9), auch als Folge des veränderten Kollagenmetabolismus, fördert einen erhöhten Bindegewebeabbau, hemmt den Heilungsprozess und verschiebt die physiologische Balance unter diabetischen Verhältnissen.

Einfluss von Parodontitis auf Diabetes mellitus

Wie auch bei anderen chronischen Entzündungen zeigen parodontal erkrankte Diabetiker durchschnittlich schlechtere glykämische Werte als gesunde Diabetiker. Mit Zunahme der Schwere der Parodontitis steigt auch der HbA1c-Wert bei Diabetikern an. Aber auch bei Individuen, die nicht an einem Diabetes erkrankt sind, ist der Blutglukosespiegel mit Parodontitis beziehungsweise mit deren Schweregrad assoziiert. Die Hypothese hierfür ist, dass subklinische Infektionen in Verbindung mit Insulinresistenz stehen. Wie auch andere chronische Entzündungen führen parodontale Infekte zu einer Kaskade proinflammatorischer Ereignisse mit unter anderem erhöhter Zytokinproduktion, Aktivierung der Akute-Phase-Protein-Synthese und nachfolgender Insulinresistenz.
Longitudinale Studien unterstützen die Annahme, dass Parodontitis zu einer Erhöhung des Blutglukosespiegels führt. So war das Ausmaß der parodontalen Erkrankung in einer bevölkerungsbasierten Studie in Vorpommern (SHIP) mit 2.793 Individuen zu Studienbeginn mit der Verschlechterung der HbA1c-Werte nach fünf Jahren positiv korreliert. Auch konnte in einer japanischen Untersuchung gezeigt werden, dass sich das Risiko für Probanden mit anfänglich normaler Glukosetoleranz, nach zehn Jahren eine gestörte Glukosetoleranz oder Diabetes mellitus zu entwickeln, mit Zunahme parodontaler Erkrankungen erhöht. Weiters ergab eine große amerikanische Studie, dass parodontal erkrankte Patienten im Vergleich mit parodontal gesunden Individuen in den nachfolgenden Jahren häufiger einen Diabetes mellitus entwickeln.
Insgesamt legen diese Untersuchungen nahe, dass Parodontitis bei Diabetikern die Stoffwechselkontrolle verschlechtert und bei Individuen ohne Diabetes das Risiko für die Entstehung einer gestörten Glukosetoleranz beziehungsweise eines Diabetes erhöht. Weitere Longitudinalstudien zeigen außerdem, dass parodontale Erkrankungen auch das Risiko diabetesassoziierter Komplikationen steigern.

Einfluss der Parodontaltherapie bei Diabetespatienten

Eine Reihe von Metaanalysen weist auf einen positiven Effekt einer nichtchirurgischen Parodontitistherapie auf die metabolische Einstellung bei Typ-2-Diabetikern hin. Die Senkung der HbA1c-Werte lag zwischen 0,4 und 0,8 Prozentpunkten bei Ausgangswerten von 7–10 %. Obwohl weitere multizentrische, randomisierte, kontrollierte Interventionsstudien mit hohen Patientenzahlen und längerem Verlauf notwendig sind, legen die bisherigen Untersuchungen dennoch nahe, dass durch eine effektive Parodontitistherapie die glykämische Einstellung bei parodontal erkrankten Diabetikern verbessert werden kann. Vergleichbare Daten liegen für andere Diabetestypen nicht vor.

Zusammenfassung

Diabetes mellitus ist eine Systemerkrankung, die interdisziplinär behandelt werden muss. Eine optimale Betreuung von Diabetikern schließt eine sorgfältige Kontrolle der Mundgesundheit respektive adäquate Therapie parodontaler Erkrankungen ein. Aus diesem Grund ist für die parodontale Behandlung als auch Nachbetreuung dieser Patienten für das zahnärztliche Team die interdisziplinäre Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung. Die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie der Parodontitis als auch des Diabetes ist eine sehr gute Patienten-Compliance. Sehr gute, technisch richtige persönliche Eigenhygiene, regelmäßige Kontrolluntersuchungen mit professioneller Zahnreinigung und effektives subgingivales Debridement sind für den Erhalt parodontaler Gesundheit unabdingbar. Für den Langzeiterfolg ist die Sicherstellung einer adäquaten glykämischen Einstellung entscheidend.

Wissenswertes für die Praxis

  • Erstuntersuchungen von Patienten mit Typ-1-, Typ-2- oder Schwangerschaftsdiabetes sollten auch eine gründliche orale Untersuchung, inklusive einer parodontalen Befundung, umfassen.
  • Patienten mit Diabetes müssen darüber informiert werden, dass ein parodontales Erkrankungsrisiko durch schlecht kontrollierten Diabetes besteht. Im Falle einer parodontalen Erkrankung kann die Blutzuckereinstellung schwieriger, aber auch ein höheres Risiko für Diabeteskomplikationen vorhanden sein.
  • Für alle Diabetespatienten mit Typ 1 oder 2 sollte eine parodontale Untersuchung durch Zahnmediziner als Bestandteil der Langzeitbetreuung veranlasst werden; auch wenn keine Parodontitis vorliegt, sollte jährlich eine Kontrolluntersuchung erfolgen.
  • Diabetespatienten, bei denen offensichtliche Anzeichen und Symptome einer Parodontitis (Zahnlockerung, Zahnwanderung, Zahnfleischsuppuration) vorliegen, benötigen eine umgehende parodontale Untersuchung respektive Behandlung.
  • Patienten mit Diabetes, die erheblichen Zahnverlust aufweisen, sollten dazu angeregt werden, eine zahnmedizinische Rehabilitation anzustreben, um die angemessene Kaufunktion für eine richtige Ernährung sicherzustellen.
  • Patienten mit Diabetes sollten aufgeklärt werden, dass andere orale Symptome – wie etwa Mundtrockenheit oder Brennen – auftreten können, die zahnärztlich abgeklärt werden sollten. Zudem haben Patienten mit Diabetes ein erhöhtes Risiko für orale Pilzinfektionen und leiden häufiger unter schlechterer Wundheilung als Nichtdiabetiker.
  • Patienten ohne bislang nachgewiesenen Diabetes aber mit offensichtlichen Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes und Anzeichen von Parodontitis sollten über das Risiko eines bestehenden Diabetes mellitus informiert werden.

 

 

Literatur beim Verfasser

In Zusammenarbeit mit Universum Innere Medizin