Kassenpraxis – der tägliche Wahnsinn?

Dr. Michael Elnekheli war über 20 Jahre Kassenfacharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in Wien. Jetzt hat er sich entschlossen, sich aus den Zwängen der Kassenmedizin zu befreien und seinen Vertrag mit der Wiener Gebietskrankenkasse gekündigt. „Wir sind einer totalen Willkür ausgesetzt.“ 200 seiner Patientinnen bekamen von der WGKK – ohne konkreten Anlass – Fragebögen zugesandt – mit teils sehr intimen Fragen, etwa zur Verhütung. Die Patientinnen wurden auch angerufen und telefonisch befragt, zum Beispiel wie stark ihre Menstruation sei. Viele Frauen meldeten sich bei Elnekheli – verunsichert, was das zu bedeuten habe. Elnekheli: „Das ist ein schrecklicher Eingriff in das Arzt-Patientenverhältnis. Die Patientinnen müssen sich ja denken: Was hat der Arzt denn am Kerbholz, dass mich die Krankenkasse kontaktiert? Meine Patientinnen empfinden dieses Vorgehen selbst als skandalös.“ Konsultationen, die etwas mit Schwangerschaftsverhütung zu tun haben, werden nicht als Kassenleistung gesehen, auch wenn dadurch behandlungswürdige Symptome therapiert werden. Vor dem Hintergrund, dass Österreich das einzige europäische Land ist, welches ausnahmslos keine Unterstützung bei der Kontrazeption gewährt, sind solche Aktionen beschämend. Die Kasse fordert Geld zurück und tyrannisiert deswegen meine Patientinnen. Das ist wirklich gegen die guten Sitten, was da abläuft.“

Jetzt wird er Wahlarzt. Er freut sich darauf, denn „ich verbessere mir meine Situation“. Die Kündigung seines Kassenvertrages sei „der Endschritt einer sehr traurigen Erfahrung mit der WGKK“. Bis vor ca. fünf Jahren sei die Welt noch heil gewesen, „ich war ein braver Systemerhalter in allen messbaren Parametern, dann sei die Wertschätzung den Ärzten gegenüber radikal gesunken. Auch die Entwicklung beim Mutter-Kind-Pass sei mehr als unerfreulich, denn seit über 20 Jahren ist das Honorar nicht einmal der Inflation angepasst worden!

 

 

„Das System führt sich ad absurdum“

Für OMR Dr. Helga Azem, FA für Augenheilkunde in Wien, „hört sich hier das soziale System auf“. Sie berichtet von Kollegen, die sich rechtfertigen müssen, warum jemand drei Mal zur Augendruckmessung einberufen wird. Patienten werden u.a. durch Briefe von der Krankenkasse verunsichert – nach dem Motto: „Bitte rufen Sie uns wegen Ihrer Arztkonsultation bei Dr. XY an.“Das beschädigt den Ruf des Arztes, der Patient macht sich Gedanken, was dahinterstecken könnte.“ Die Fragen seien dabei sehr zielgerichtet, im Sinne von Suggestivfragen. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wird eklatant gestört, das Ansehen des Arztes wird beschädigt.“

Bei unseren Nachbarn stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Augendruckmessung wird in Deutschland nur bei tatsächlichem Vorliegen eines Glaukoms von den Krankenkassen bezahlt. Die vorsorgliche Augendruckmessung wird dem Patienten daher als Individuelle Gesundheitsleistung (IGL) privat verrechnet. Die Ökonomen werfen den Augenärzten vor, diese Vorsorgeuntersuchung nur aus Gründen der Geldeintreibung vorzunehmen. Mit ähnlichen Vorwürfen werden auch andere Fächer in Deutschland konfrontiert.

Betroffen seien in Wien zum Beispiel aber auch Allgemeinmediziner, die viele Kinder betreuen: Die Eltern werden durch die Kontaktaufnahme durch die Krankenkasse und die Fragen, was bei den Kindern untersucht wurde und welche Therapie erfolgt sei, verunsichert und wechseln in weiterer Folge unter Umständen zum Kinderarzt.

Azem: „Die Kasse will mit allen möglichen Mitteln die Ökonomie in Griff bekommen.“ Sie berichtet zum Beispiel von Lieferschwierigkeiten bei Acyclovir. „Nicht lieferbare Medikamente werden aus dem EKO genommen, und wenn das Präparat dann wieder lieferbar ist, bleibt es trotzdem draußen. Wenn man dann beim Hauptverband nachfragt, heißt es sinngemäß ,Wir sind nur für die Ökonomie verantwortlich, nicht für die Versorgung der Patienten. Das kann ja wohl nicht sein. Da führt sich das System ad absurdum.“

 

 

Deckelung der NLG-Messungen – ein Kuriosum

OA Dr. Andreas Steinbauer ist seit 2002 Arzt für Allgemeinmedizin, seit 2006 Facharzt für Neurologie und seit 2009 Zusatzfacharzt für neurologische Intensivmedizin und Geriatrie. Von 2007 bis 2015 war er durchgehend als Wahlarzt für alle Kassen tätig und hat im Jahr 2015 nach 8½ Jahren Wartezeit (!!) den Kassenvertrag als Neurologe bekommen. „Ich war mit der maximalen Punktezahl erstgereiht. Zuvor habe ich bereits jahrelang an weit mehr als 400 Tagen in anderen Ordinationen vertreten und kann auf entsprechende Erfahrungen zurückgreifen. Warum ich einen Kassenvertrag wollte, ist einfach erklärt: Ich wollte mein eigener Chef sein und selbst ein Unternehmen aufbauen, was mir bis jetzt auch gut gelungen ist.“

Die Zusammenarbeit mit der Krankenkasse könne er nicht primär als schlecht beklagen, weil sie ja durch Verträge geregelt sei und die Zusammenarbeit im Wesentlichen auch darauf beruhe. Steinbauer: „Allerdings sind in den Verträgen einige antiquierte Positionen und Einstellungen, die wir trotz intensivster Verhandlungen vor eineinhalb Jahren nicht verändern konnten, wie zum Beispiel die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Die Krankenkasse verlangt, dass wir die Patienten wegen der 10-prozentigen Deckelung von uns selbst aus der Ordination wegschicken in eine andere Ordination und dann wieder weiter behandeln und umgekehrt! Das ist nicht im Sinne der Versicherten der Krankenkasse, sie müssen den doppelten Weg machen, haben zwei Termine einzuhalten, fehlen mitunter auch zwei Mal am Arbeitsplatz und es ist somit auch nicht im Sinne der Dienstgeber, die ja auch Beitragszahler bei der Gebietskrankenkasse sind.“

Von Seiten der GKK sei – trotz mehrfacher Versuche – kein Einsehen vorhanden, obwohl in anderen Bundesländern die Durchführung der Nervenleitgeschwindigkeit nicht gedeckelt und eine der wesentlichsten Untersuchungen beim Neurologen überhaupt sei. „Das ist so, als dürfte ein Internist kein EKG machen, weil er dieses nur bei 10% der Patienten machen darf und diese 10% bereits verbraucht wurden. Er müsste den Patienten zu einem anderen Internisten schicken und dieser schickt seine Patienten wiederum zu einem Internisten – unvorstellbar! Genauso ist es bei uns Neurologen mit der Nervenstrommessung. Es ist höchste Zeit, dass dieser Schwachsinn aufhört.“

Steinbauer erläutert ein weiteres Beispiel: „Es gibt ein spezielles Medikament für neuropathische Beschwerden bei Diabetes mellitus. Ich habe das Medikament einem Patienten verschrieben, der unter den Beschwerden großen Leidensdruck hatte und das Medikament wurde von der Krankenkasse abgelehnt. Die Krankenkasse forderte die Durchführung einer Nervenstrommessung zur Bestätigung, dass der Patient an einer Polyneuropathie durch Zucker leidet. Gleichzeitig verbietet mir die Krankenkasse, diese Untersuchung zu machen, da ich sie wegen der Deckelung nur bei zehn Prozent meiner Patienten machen darf.“

Prof. Dr. Rudolf Müller, Internist in 1160 Wien, ist seit bald 30 Jahren in der Niederlassung und hat bis dato keine Probleme mit den Kassen gehabt. Allerdings stören ihn Limitierungen, z.B. beim Herzecho. „Wir haben Deckelungen, die jeglicher Logik entbehren – wieso soll ich einen Patienten zur Herz-Ultraschalluntersuchung zu einem Kollegen schicken, nur weil ich schon über der Deckelung bin?“

Im Dschungel der Bewilligungen

Laut Steinbauer gäbe es auch positive Aspekte wie das Bewilligungsservice, das in aller Regel in der vorgegebenen halben Stunde funktioniert – so wie es mit der Krankenkasse ausgemacht sei. „Leider gibt es dazu natürlich auch wiederum den täglichen Ärger, indem nämlich gleiche Medikamente von verschiedenen Krankenkassen unterschiedlich bewilligt werden. Das ist für uns wirklich ein Dschungel, wo wir keinen Überblick haben und wir haben auch nicht die Informationen zur Verfügung, nach welchen die Krankenkasse beziehungsweise die Chefärzte die Genehmigungen in einem Fall erteilen und im anderen Fall nicht. Es gibt diesbezüglich interne Papiere und Vereinbarungen der Chefärzte und es ist nicht einzusehen, warum diese nicht uns automatisch auch übermittelt werden. Wir verwenden den Erstattungskodex – und trotzdem werden manchmal Medikamente abgelehnt und Sonderwünsche gefordert.“, so Steinbauer. „Diesen Prozess könnte man sich ersparen, wenn man den Ärzten die gleiche Dokumentation und Anforderung zur Verfügung stellen würde oder wenn das zum Bespiel im ABS-System automatisch angezeigt würde, dann würde auch der Patient nicht zweimal eine halbe Stunde, sondern nur einmal eine halbe Stunde warten müssen.“

Der „Wahnsinn“ bei all diesen Dingen sei, dass es die Kassenärzte persönlich seien, die diese Anträge selbst und persönlich manuell in den Computer eingeben müssten, zur Krankenkasse übertragen müssten und dass dies nur mit sehr teuren Spezialsoftwarelösungen funktioniere, welche alle die Ärzte selbst und persönlich bezahlen müssten. „Die Krankenkasse leistet keinen Cent dazu, sondern profitiert nur von den dadurch gewonnenen Einsparungen. Das ist für uns nicht nachvollziehbar.

Wir behandeln nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und verschreiben, was Sinn macht und was keinen Sinn macht, verschreiben wir auch nicht, weil es nicht mit dem Ehrenkodex, den wir alle haben, vereinbar ist. Die Krankenkasse sichert sich doppelt und dreifach ab indem sie den Zugang zu Medikamenten für Patienten limitiert und reglementiert. Es ist aber nicht nachvollziehbar warum die Kosten für die Softwarepakete immer von uns getragen werden, wenn die Versicherung den Vorteil daraus zieht! Wir mussten vor einigen Jahren die gesamte E-Card-Ausstattung selbst bezahlen. Alleine die Rechnung für die Telekom beträgt bei uns in der Ordination für nur eine einzige Leitung zirka 200 €. Das ist der Nachteil im so genannten Kassenwesen. Als Wahlarzt war ich nicht frei von der Verpflichtung ökonomisch zu arbeiten und ökonomisch Medikamente zu verschreiben. Ich war aber völlig verschont von der Verpflichtung Software und technische Geräte für eine fremde juristische Person – nämlich die Krankenkasse – bezahlen zu müssen.“

Im Kassenwesen werde mit dem Kassenvertrag automatisch (obwohl es nicht einmal drinnen steht) diese Verpflichtung zur Bezahlung der Kassensoftware eingegangen, „die wir tragen müssen. Hier müsste die Ärztekammer sicher auch noch vehementer und klarer dagegen auftreten, weil wir uns das nicht mehr länger gefallen lassen wollen.“

Insgesamt sei die Arbeit im Kassenwesen rein medizinisch schön und zielführend für den Patienten und auch für den Arzt, weil doch auch Heilungserfolge erzielt werden und mitverfolgt werden könnten und somit für beide Seiten ein positives Erlebnis gegeben sei.

Steinbauer: „Was uns besonders stört, ist das Hemmnis bei der Krankenkasse, dass auch dort Ärzte sitzen, die viele Dinge durchaus auch so sehen, wie wir das darlegen und verstehen, aber andere, nicht ärztlich besetzte übergeordnete Stellen nichts davon wissen wollen und keine Änderung am System zulassen. Nicht umsonst haben wir in Österreich 15 verschiedene Krankenkassen mit 15 verschiedenen Direktoren, Unterdirektoren, Bereichsleitern, etc. Es ist klar, dass hier keine Änderung gewünscht ist, weil jede Vereinfachung zu einer Einsparung der Führungspositionen führen würde. Stichwort Zusammenlegung von Krankenkassen. Diese Führungspositionen sind wiederum politisch besetzt und hier ist wiederum der maligne Einfluss der Politik in das Gesundheitssystem zu sehen.“

Fühlt sich der Neurologe von den Krankenkassen oder der Politik wertgeschätzt? Eindeutige Antwort: „Nein. Die Arbeit wird nur vom einzelnen Patienten wertgeschätzt und das ist genau das, was die Politik auch noch abschaffen will – siehe Zentrum für Primary Health Care!“

 

 

Ärzte als Sklaven im PHZ?

Steinbauer: „Die Politik und jene, die in der Politik sitzen, wollen ihre eigene Firma gründen beziehungsweise die Firma wo sie Anteile halten oder die der Gattin gehört und sogenannte Gesundheitszentren aufbauen, dort Chef sein über Ärzte, die dort angestellt sind und als Sklaven dienen. Das ist der Wahnsinn an den derzeit geplanten PHZ und warum auch die Politik derzeit massiv intrigiert und versucht, die jetzigen Kassenärzte loszuwerden. Die Krankenkasse ist hier leider kein Verbündeter, weil die Krankenkasse die billigste Lösung nimmt und das ist das, was die Politiker wiederum der Krankenkasse mit den PHZ versprechen.“

Wie das funktionieren sollte, ist betriebswirtschaftlich sehr einfach erklärt: den Gewinn, den derzeit die Ärzte machen, sollen dort die Politiker, die an den Firmen beteiligt sind, abschöpfen dürfen und die Ärzte nur mehr als angestellte Untergebene dienen und diktiert werden. Unisono wird eine Überarbeitung der Honorarkatologe gefordert. Klar sei, dass das Gesprächsklima zwischen Kassen und den Ärzten gestört sei.

Müller dazu: „Es fehlt leider die Flexibilität auf beiden Seiten.“

 

 

 

Der Beruf des Kassenarztes muss attraktiver werden

Der Trend ist eindeutig, Kassenverträge verlieren für immer mehr Ärztinnen und Ärzte ihre Attraktivität: Gegenwärtig gibt es in Österreich 3.880 niedergelassene Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag, um fast 300 weniger als im Jahr 2006. Die Zahl der Kassen-Fachärzte blieb etwa konstant. Gleichzeitig ist die Zahl der Wahlärzte von rund 7.000 auf knapp 10.000 angestiegen. Die Zeiten, als ein Kassenvertrag noch etwas von den meisten Ärzten heiß Begehrtes war, sind also inzwischen Medizingeschichte.
Dass die Krankenkassen – zumindest einige davon – die Verantwortung für diesen Trend selbst tragen, bezeugen die vielen Beschwerden von Kolleginnen und Kollegen. Die Art und Weise, wie niedergelassene Kassenärzte durch Deckelungen und Degressionen behindert, durch immer mehr Bürokratie von der Arbeit abgehalten und durch „Mystery Shopping“ oder in rüdem Stil geführte „amikale Gespräche“ gedemütigt werden, kann einem schon die Freude an der Arbeit nehmen.
Die Kassen sollten also dazu beitragen, dass die Rahmenbedingungen der kassenärztlichen Tätigkeit wieder attraktiver werden. Konstruktive Vorschläge dazu haben wir schon oft präsentiert, doch die Gleichgültigkeit des Gegenübers war bisher stärker.
Deckelungen und Degressionen sollten abgeschafft werden. Maßstab für ärztliche Leistung kann nicht eine willkürliche Obergrenze mit dem Ziel des Sparens sein, sondern ausschließlich der reale Bedarf der Patienten. Das Anbieten medizinischer Leistungen jenseits des „Deckels“ zum Nulltarif kann hier keine Lösung sein.
Die Leistungskataloge sind zum Teil von Vorgestern und gehören an den medizinischen Fortschritt angepasst.
Der überbordende bürokratische Aufwand für die Chefarztpflicht, das ABS und Dokumentationen aller Art muss radikal auf ein akzeptables Maß reduziert werden. Bewilligungen und Kontrollen, die Patienten nichts bringen – zum Beispiel durch einen Chefarzt, der den Patienten nie gesehen hat – gehören ersatzlos gestrichen.
Die geforderte Identitätsüberprüfung von Patienten ist immens zeitraubend. Eine E-Card mit Portraitaufnahme würde Ärzten große Erleichterung bringen und Zeit sparen.
Das „Mystery Shopping“ durch von den Kassen eingesetzte Spitzel mit gefälschter E-Card ist nicht nur eine dreiste Zumutung, sondern erzeugt auch Unsicherheit und aufwändige Absicherungsmedizin und verkompliziert den Praxisbetrieb. Also weg damit.
Solche Maßnahmen endlich umzusetzen wäre ein sinnvoller erster Schritt, um den Beruf des Kassenarztes wieder attraktiver zu machen – nicht nur für bereits praktizierende Mediziner, sondern auch für den ärztlichen Nachwuchs.
Dr. Johannes Steinhart, ÖÄK-VP