Kollektivschutz oder Individualschutz?

Bei einigen impfpräventablen Erkrankungen ist es in letzter Zeit zu gravierenden Än­derungen der Impfempfehlungen der WHO gekommen. Unter anderem wurde die Gültigkeit (!) der Gelbfieberimpfung auf lebenslang hochgestuft. Die Frage, inwieweit die geänderten WHO-Empfehlungen auf Reiseempfehlungen umzulegen sind, hat zum Teil für Diskussionen gesorgt. Die namhaften österreichischen Fachgesellschaften haben nun vor kurzem ein Konsensus-Statement zu Reiseimpfungen erarbeitet, das den WHO-Emp­fehlungen zwar Rechnung trägt, in einzelnen Aspekten aber davon abweicht.  Vor dem Hintergrund weltweit limitierter Impfstoffmengen zielen die WHO-Empfehlun­gen auf den damit erreichbaren maximalen Kollektivschutz ab und fokussieren insbeson­dere in Endemiegebieten auf eine möglichst breite Grundimmunisierung.

Reisemedizin muss jedoch darüber hinausgehen und auf den tatsächlichen Individual­schutz abzielen. Die Gültigkeitsdauer einer – für viele Länder formal vorgeschriebenen – Gelbfieberimpfung (ab nun „lebenslang“) darf dabei nicht mit einer tatsächlichen Impf­schutzdauer gleichgesetzt werden, erläutert Reisemediziner Herwig Kollaritsch im Interview (Seite 20). Ob und zu welchen Impfungen geraten wird, richtet sich neben geo­grafischen und epidemiologischen Parametern auch nach der Art der Reise.

Die Fragen zu Individualschutz und Kollektivschutz beschäftigen derzeit auch die laufen­den gesundheitspolitischen Diskussionen, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Bei uns scheitert ein breiter Kollektivschutz nicht an limitierten Impfstoffmengen, sondern an ei­ner limitierten Impfbereitschaft – und an fehlenden strukturierten Konzepten. Die rezen­ten Masernausbrüche und ein aktueller Fall einer schweren Rötelnembryopathie sind da­bei nur die Spitze des Eisberges. Die endlosen Diskussionen um die „altruistisch motivierten“ Impfungen zum kollektiven Herdenschutz greifen zu kurz.

Impflücken bestehen bei uns aus vielerlei Gründen. Wenn grundimmunisierte, prinzipiell impfbereite Generationen Impflücken haben – bei Polio, bei Pertussis, bei Hepatitis, bei FSME – und auf ihre Auffrischungen vergessen, schreit das nach gesundheitspolitischen Maßnahmen. Denn das liegt weniger an weltanschaulichen Gründen als vielmehr an Un­wissenheit, fehlender Motivation – und auch an einer fehlenden standardisierten Veranke­rung der Impfungen in der Erwachsenenmedizin …

Sich laufend ändernde Impfschemata erleichtern die Grundimmunisierung im Kindesal­ter, keine Frage! Doch was ist danach? Bei welchem Schema wird wie aufgefrischt? Kinder­ärzte impfen die Kinder, wer impft deren Eltern? Die Unfallspitäler boostern Tetanus, aber jahrzehntelang fragt niemand nach Pertussis. Muss man Hepatitis auffrischen? Nein bezie­hungsweise auch ja, je nach Alter bei Grundimmunisierung et cetera … Der Schutz vor HPV war der Gesundheitspolitik jahrelang gar nichts wert, jetzt wundern wir uns … Bei­spiele fallen mir viele ein. Und dazu kommt Standespolitisches. Wer soll wem zu welcher Impfung raten? Welcher Impfstoff ist wo und für wen zu welchen Kosten verfügbar? – Und wer darf überhaupt wen impfen?

Was fehlt, sind Konzepte zu einem breiten, tatsächlich niederschwelligen Zugang …

 

Susanne Hinger

s.hinger(at)medmedia.at