In den letzten Jahren brachten neue Entwicklungen im Diabetestechnologiesektor weitreichende Veränderungen für die Therapie von Menschen mit Diabetes mit sich. Die Fülle an immer neueren Produkten und digitalen Lösungen ist selbst für Diabetologinnen und Diabetologen eine Herausforderung. Aufgrund der Vielfalt an Optionen bleiben nützliche Funktionen oft ungenützt.
Allen voran setzen die bereits weitverbreiteten kontinuierlichen Glukosemonitoring-Systeme (CGM-Systeme) neue Maßstäbe. Beim kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM) wird über elektrochemische Sensoren der Glukosegehalt der interstitiellen Gewebsflüssigkeit gemessen. Die verbesserte Messgenauigkeit, die sich derzeit mit herkömmlichen kapillären Glukosemesssystemen vergleichen lässt, ermöglicht sichere Therapieentscheidungen. Durch die kontinuierliche Abbildung der Glukoseverläufe mit der Angabe von Trends für die kommenden Minuten lassen sich Insulindosierungen und Mahlzeiten leichter und zielsicherer planen. Als Resultat erreichen Menschen mit Diabetes, die ihr Diabetesmanagement mittels CGM durchführen, häufiger die Zielbereiche bezüglich HbA1c, Zeit im Zielbereich, weisen weniger Hypoglykämien auf und zeigen eine verbesserte Behandlungszufriedenheit sowie Lebensqualität verglichen mit Personen, die herkömmliche Fingerstichmessungen verwenden. Im klinischen Alltag sind diese Systeme Menschen mit Diabetes mellitus Typ 1 oder 2 unter intensivierter Insulintherapie vorbehalten, jedoch zeigen Studien auch Erfolge bei basalinsulinunterstützter oraler Therapie (BOT) oder oraler Antidiabetika-Therapie (OAD) im Rahmen der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2.
Prinzipiell wird zwischen „intermittently scanned CGM“ (isCGM) und „realtime CGM“ (rtCGM) unterschieden. Der Unterschied ist bedingt durch die Art der Signalübertragung. Erstere verlangen einen „scan“, also eine aktive Handlung, um einen Glukosewert angezeigt zu bekommen (FreeStyle Libre 1 und 2, Abbott Diabetes Care), wohingegen Zweitere kontinuierlich Glukosewerte an das Endgerät (Reader/Smartwatch/Smartphone mit entsprechender App) übermitteln. Hierbei besteht vor allem die Möglichkeit, vor drohenden Hypo- oder Hyperglykämien zu warnen (Dexcom G5/G6, Dexcom; Guardian Connect, Medtronic; GlucoMen Day®, A. Menarini Diagnostics). Eine Sonderstellung nimmt der FreeStyle Libre 2 (Abbott Diabetes Care) ein, dieses isCGM-System verfügt über Echtzeitalarme; zur Ermittlung des tatsächlichen Glukosespiegels muss jedoch gescannt werden.
Alle Systeme können von den AnwenderInnen selbst gesetzt werden und verbleiben je nach System 7–14 Tage am Körper. Kalibrationen mittels Fingerstichmessungen wurden mit Fortschreiten der Technologie in den letzten Jahren reduziert – mittlerweile sind die meisten Systeme kalibrationsfrei.
Durch die verbesserte Genauigkeit und Verlässlichkeit der aktuellen rtCGM-Systeme wurden in Kombination mit der Anwendung von Insulinpumpen automatisierte Insulinabgabe-Systeme entwickelt (Hybrid-Closed-Loop-Systeme/Automated-Insulin-Delivery-Systeme). Hier wird durch die diagnostische Komponente des rtCGM eine therapeutische Intervention im Sinne einer automatisierten, kurzfristigen, bedarfsgerechten Anpassung der Basalrate als Serien von Mini-Insulinboli Änderung vorgenommen, und dadurch kann drohenden hypo- oder hyperglykämischen Entgleisungen vorgebeugt werden. In Österreich verfügbare Beispiele hierfür sind das bereits seit einigen Jahren am Markt befindliche MiniMed™-670G-System von Medtronic und das Nachfolgeprodukt MiniMed™ 770G (beide mit dem Guardian™-3-Sensor). Das MiniMed™-780G-System mit verbessertem Algorithmus ist in Österreich noch nicht erhältlich. Weitere bereits zugelassene, jedoch am österreichischen Markt noch nicht verfügbare Systeme sind das CamAPS®-FX-System unter Nutzung der DANA-RT-Insulinpumpe, das Diabeloop-System mit dem DBLG1-Algorithmus in Kombination mit der Accu-Chek Insight Insulinpumpe (Roche Diabetes Care) und der Control-IQ-Algorithmus in Kombination mit der t:slim-X2-Insulinpumpe (Tandem Diabetes Care), welche alle den Dexcom-G6-Sensor nutzen. Die Vernetzung von Diabetestechnologie geht jedoch weit über die Kommunikation von Insulinpumpen und rtCGM hinaus. Am Smartphone – als zentrales Organisationstool der Gegenwart – laufen Informationen aus Insulinpumpe, Insulinpens (z. B. NovoPen® 6 Echo, Novo Nordisk) und Glukosemonitor zusammen und können automatisch in unterschiedliche Tagebuch- und Therapie-Apps gespeist werden (z. B. my-Sugr-App).
Bei allem technologischen Fortschritt stellt jedoch die oft unzureichende Nutzung der Möglichkeiten eines der größten Probleme in der Praxis dar. Die Datenflut und die teilweise recht komplexen Benutzeroberflächen der gängigen CGM-Systeme können AnwenderInnen, aber auch das betreuende medizinische Personal überfordern. Sowohl in Handhabung der Geräte und ihrer Benutzeroberflächen/Software (App/PC) als auch in Interpretation der Glukoseverläufe und Insulinabgaben sollte daher eine intensive und – wenn nötig – wiederholte Schulung erfolgen, um das vorhandene Potenzial dieser (kostspieligen) Technologien zu nutzen. Hier sind sowohl Hersteller als auch Diabetes-Zentren gefragt.
Durch die kontinuierliche Aufzeichnung der Glukoseverläufe ist es möglich, den prozentualen Anteil der verbrachten Zeit in unterschiedlichen (Ziel-)Bereichen zu erfassen. Internationale Leitlinien empfehlen das Heranziehen der Time in Range (TIR), Time above Range (TAR) und Time below Range (TBR) zur Interpretation der CGM-Daten. Die Zielwerte dieser Empfehlungen sind in der Abbildung dargestellt. Die Einführung dieser neuen Surrogatparameter für die Diabetesein-stellung wird durch folgende Vorteile gegenüber der herkömmlichen Beurteilung der Stoffwechseleinstellung basierend auf dem HbA1c argumentiert: bessere Darstellung der Glukoseverläufe und -variabilität, schnelleres Ansprechen auf Änderungen in der Therapie, keine Beeinflussung durch Hämoglobinopathien/Anämien etc.
Wichtig ist weiters, bei der Dateninterpretation zu beachten, dass ausreichend Sen-sordaten (> 70 % über 14 Tage) verfügbar sind. Beim Auslesen der Sensordaten ist unbedingt darauf zu achten, dass der korrekte Zielbereich (70–180 mg/dl für den Großteil der Personen mit Diabetes mellitus; 54–140 mg/dl für Schwangere) korrekt eingestellt ist, da dies sonst zu einer Fehlinterpretation führen kann. Auch können fehlerhaft messende Sensoren zu einer Fehleinschätzung der Diabeteseinstellung führen. Bei großen Diskrepanzen zwischen den Daten der Sensorauswertung (Zeit im Zielbereich und eA1c bzw. Glukosemanagement-Indikator [GMI]) und HbA1c sollte die Sensorgenauigkeit durch eine Referenzmessung überprüft werden. Gegebenenfalls sollte eine Datenbesprechung durch das betreuende medizinische Team nach weiteren 14 Tagen erfolgen. In dieser Zeit sollten die AnwenderInnen mehr Bedacht auf die Messgenauigkeit des Sensors legen (Kontrollmessungen) und den Sensor im Bedarfsfall wechseln.
Derzeit wird noch eine Beurteilung in Abstimmung mit dem etablierten HbA1c empfohlen. Die Zielwerte der CGM-Metriken sollten AnwenderInnen bekannt sein und regelmäßig evaluiert werden. In der Praxis werden zur Beurteilung der Stoffwechselkontrolle meist die letzten 2 Wochen vor Ambulanz-/Praxisbesuch herangezogen, jedoch kann es sinnvoll sein, auch länger zurückliegende Zeitspannen zu evaluieren. Phasen mit veränderten Lebensbedingungen (z. B. Urlaub, Krankheit) sollten ausgeschlossen werden, und bei Schichtarbeit sollte die Auswahl des zu beurteilenden Zeitraumes entsprechend angepasst werden.
Die CGM-Daten sind insbesondere in Bezug auf situationsabhängige Glukoseverläufe und das Ansprechen auf Insulin-gaben interessant. Diese richtig zu interpretieren kann zu einer besseren individualisierten Therapie führen. Beispielsweise können nächtliche Glukoseverläufe asymptomatische Hypoglykämien aufdecken, die unter herkömmlicher Fingerstichmessung nicht detektiert würden. Hier ist vor allem der oft irreführende Somogyi-Effekt (Rebound-Hyperglykämie) zu erwähnen. Des Weiteren erleichtert die retrospektive, lückenlose Aufzeichnung der Glukosekurven die Durchführung von Basalratentests zu unterschiedlichen Tageszeiten, was zur Ermittlung der korrekten Basalinsulindosis beiträgt. Insbesondere die regelmäßige Durchführung von Mahlzeitentests im Alltag mit unterschiedlichen/bevorzugten Lebensmitteln ist für CGM-AnwenderInnen interessant, da man sich hier sehr einfach an den individuellen Bolusfaktor sowie an das richtige Timing der Bolusinsulingabe (Split-Bolus, Spritz-Ess-Abstand) herantasten kann. Auch die Auswirkungen von Sport und körperlicher Bewegung auf Insulinsensitivität und Glukosestoffwechsel können retrospektiv analysiert werden. Somit kann CGM helfen, den eigenen Glukosestoffwechsel und die Insulintherapie besser zu verstehen und letztlich eine besseres „Gefühl“ für die eigene Diabeteseinstellung zu bekommen.