Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck ist Past-Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft und Leiter der Arbeitsgruppe für Kopf- und Gesichtsschmerzen an der Medizinischen Universität Innsbruck. Im Gespräch mit der Ärzte Krone spricht er über die wichtigsten Fortschritte beim Kopfschmerz, die Auswirkungen der (Ent-)Stigmatisierung und den Zusammenhang zwischen Migräne und Schlaganfall.
Fast jeder Mensch leidet gelegentlich an Kopfschmerz – viele sogar regelmäßig. Handelt es sich um ein zunehmendes Problem?
Gregor Brössner: Grundsätzlich ist es so, dass wir die Kopfschmerztypen an- hand der internationalen Klassifikation der Kopfschmerzerkrankungen einteilen (ICHD-III). Diese Klassifikation gibt es seit Ende der 1980er-Jahre, und sie hat durch die einheitliche Definition zum ersten Mal eine Vergleichbarkeit und diagnostische Vereinheitlichung ermöglicht. Dieser Katalog wird seither laufend aktualisiert – das letzte Mal 2018 – und enthält insgesamt mehr als 200 verschiedene Kopfschmerzarten. Zur Häufigkeit gibt es leider nur sehr wenige gut gemachte Langzeituntersuchungen, die die verschiedenen Arten abdecken. Außerdem zeigen verschiedene Studien unterschiedliche Ergebnisse zur Veränderung der Prävalenz. In Österreich verzeichnen wir sicher keinen dramatischen Anstieg von Kopfschmerzen. Es gibt aber ein paar Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass zum Beispiel die Häufigkeit von Migräne leicht zugenommen hat. Was in jedem Fall zu sehen ist – und das ist für mich eine wichtige positive Entwicklung –, ist, dass die Alertness, also die Aufmerksamkeit für Kopfschmerzen, in der Bevölkerung, aber auch bei den Ärzten deutlich zugenommen hat.
Brössner: Primäre Kopfschmerzen werden mittlerweile als eigenständige neurobiologische Erkrankung verstanden und nicht mehr als psychisches beziehungsweise psychiatrisches Problem. Im vergangenen Jahrzehnt hat es große Fortschritte im Bereich der Pathophysiologie des Kopfschmerzes gegeben. Mit Hilfe von spezialisierten bildgebenden Verfahren und verschiedenen Serummarkern konnte für viele primäre Kopfschmerzerkrankungen nachgewiesen werden, dass diese sehr wohl eine neurobiologische Grundlage haben. Mittlerweile verstehen wir um ein Vielfaches besser, welche Prozesse zum Beispiel bei einer Migräneattacke im Gehirn ablaufen, und wissen, dass diese auf einer Fehlfunktion im Gehirn beruhen. Die dadurch entstandene Entstigmatisierung führt dazu, dass sich immer mehr Patienten trauen, einen Arzt aufzusuchen. Kopfschmerz ist in der Neurologie ein medizinisch relevantes Problem, aber natürlich auch in der allgemeinmedizinischen Praxis.
Brössner: Allein die Migräne betrifft ungefähr 12–13 Prozent der österreichischen Bevölkerung. Das sind umgerechnet knapp eine Million Menschen. Die Versorgung einer solchen Zahl kann nur funktionieren, wenn das gesamte Versorgungssystem – also vom Allgemeinmediziner angefangen über den Neurologen bis hin zu den spezialisierten Zentren – gut zusammenarbeitet. Wiederkehrender oder chronischer Kopfschmerz ist nicht nur für den Einzelnen eine Belastung, sondern auch aus sozioökonomischer Perspektive ein relevantes Problem – also aus Sicht der Krankenkassen und der Wirtschaft. In einer österreichischen Studie aus dem Jahr 2015 konnte gezeigt werden, dass Patienten aufgrund von unzureichend therapiertem Kopfschmerz Arbeitstage und Lebensqualität einbüßen.
Brössner: Es besteht nach wie vor ein großer Aufhol- und Nachholbedarf bei Medizinern, was das Wissen um die Diagnostik sowie die Therapie von Kopfschmerzen betrifft. In den letzten Jahren hat sich einiges in der Diagnostik getan, aber noch viel mehr in der Therapie. Unter anderem gibt es seit Kurzem monoklonale Antikörper, die für die Prophylaxe der Migräne zugelassen wurden. Und einige weitere stehen kurz vor der Zulassung. Damit hat sich für uns Ärzte ein großes neues therapeutisches Fenster geöffnet.
Brössner: Die Prophylaxe hängt in erster Linie von der Art des Kopfschmerzes ab, aber auch von Häufigkeit und Schwere der Attacken sowie dem Ansprechen auf die Akutbehandlung. Bei der Migräne zum Beispiel haben wir das globale Problem, dass sich wesentlich mehr Patienten für eine medikamentöse Prophylaxe qualifizieren, als sie letztlich vom Arzt verordnet bekommen. Zu den wissenschaftlich überprüften Methoden der nichtmedikamentösen Prophylaxe gehören regelmäßiger Ausdauersport von 3-mal 30 Minuten in der Woche, zusätzlich Biofeedbacktraining unter physiotherapeutischer Anleitung und Entspannungsübungen nach Jacobson. Diese Maßnahmen sollten bei jedem Patienten ausgeschöpft werden. Leidet dieser dennoch weiterhin an heftigen Attacken – als Faustregel gilt 3 oder mehr Attacken pro Monat –, kommt zusätzlich die medikamentöse Prophylaxe zum Einsatz. Bei gutem Ansprechen kann eine Anfallsreduktion um etwa 50 Prozent oder mehr erreicht werden. Leider kommt es häufig zu unangenehmen Nebenwirkungen, weswegen immer eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung stattfinden sollte. Abhängig vom Medikament kann es zu Gewichtszunahme, Depression, Gedächtnisstörungen, Stimmungs- oder Blutdruckschwankungen kommen. Die neuen monoklonalen Antikörper haben den Vorteil, dass sie ein deutlich günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen und damit deutlich besser vertragen werden als die bisherigen Prophylaxemedikamente.
Brössner: Grob gesprochen gibt es zwei Gruppen von Migräne – ohne Aura und mit Aura. Nur etwa 20 Prozent der Betroffenen leiden unter Migräne mit Aura. Die Aura tritt bekanntlich meist vor Eintreten des Migränekopfschmerzes auf und manifestiert sich mit neurologischen Ausfällen, wie zum Beispiel visuellem Flimmern. Wenn man alle Migränepatienten auf ihr Schlaganfallrisiko untersucht, dann haben jene mit Aura ein statistisch erhöhtes Schlaganfallrisiko, und zwar etwa um den Faktor 2. Trotzdem ist diese statistische Risikoerhöhung mit großer Vorsicht zu betrachten und sollte nicht zur Beunruhigung von Patienten führen, da die absoluten Zahlen – und damit die Gefahr für den einzelnen Migränepatienten – extrem gering sind.
Brössner: Für den einzelnen Patienten ist dieses Ergebnis mit Vorsicht zu betrachten. Was man aber tun kann, ist – insbesondere bei Frauen mit Migräne mit Aura –, den zusätzlichen und beeinflussbaren Risikofaktoren ein größeres Augenmerk zu schenken und zu modifizieren. Dazu gehören unter anderem hormonelle Kontrazeptiva, Rauchen, Hypertonie und Hypercholesterinämie.
Die Studien zeigen nicht, dass eine Reduktion der Frequenz der Attacken auch zu einer Reduktion des Schlaganfallsrisikos führt. Diesen Umkehrschluss kann man daher nicht ziehen. Weltweit gibt es aber unterschiedlichste Untersuchungen, die alle eines ganz klar zeigen: Je häufiger die Migräneattacken auftreten und je schwerer diese sind, umso stärker ist der Betroffene in seinem Sozialleben, in seinem beruflichen Leben und in seiner familiären Lebensqualität eingeschränkt. Studien zeigen ganz klar, kann die Anfallsfrequenz gesenkt werden, hat das positive Auswirkungen auf die Lebensqualität.
Brössner: Der Allgemeinmediziner ist in jedem Fall eine gute erste Anlaufstelle. Handelt es sich um einen primären Kopfschmerz, der sich nur schwer in den Griff bekommen lässt, ist eine Überweisung zum niedergelassenen Neurologen sinnvoll. Wenn die Möglichkeit besteht – und das ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich –, kann der Patient auch direkt in ein Kopfschmerzzentrum geschickt werden. Eine Übersicht der Zentren und Spezialisten ist auf der Website der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft zu finden: www.oeksg.at.
Brössner: Bei einem Patienten, der zum ersten Mal mit dem Leitsymptom Kopfschmerz kommt, gilt es in erster Linie abzuklären, ob es sich um einen primären oder sekundären Kopfschmerz handelt. Primäre Kopfschmerzen, wie Migräne, Cluster-Kopfschmerzen, Spannungskopfschmerzen, sind zwar sehr unangenehm für die Betroffenen, aber letztlich nicht gefährlich. Bei sekundärem Kopfschmerz tritt dieser lediglich als Symptom einer jedoch potenziell lebensbedrohlichen Grunderkrankung auf.
Das absolut Wichtigste in der Kopfschmerzdiagnose und für die Differenzierung eines primären und sekundären Kopfschmerzes ist eine fundierte, gezielte Anamnese und klinisch-neurologische Untersuchung. Wichtig ist, dass man dabei den Red Flags besondere Bedeutung beimisst.
Brössner: Jeder Kopfschmerz, der erstmalig nach dem 50. Lebensjahr auftritt, ist grundsätzlich verdächtig. Dasselbe gilt für Kopfschmerz, der mit neurologischen Ausfällen einhergeht. Auch bei Kopfschmerz, der auf normale Schmerzmittel nicht oder nicht mehr anspricht, müssen alle Alarmglocken läuten. Ebenso sollte bei starken Kopfschmerzen mit Fieber immer eine weitere Abklärung erfolgen – hier würde ich die Latte zu Bildgebung, Labor oder Lumbalpunktion sehr niedrig ansetzen. Dasselbe gilt für perakuten Kopfschmerz, der plötzlich und heftig einsetzt.
Das weitere Abklärungspotpourri ist relativ breit und die Entscheidung in erster Linie von der Verdachtsdiagnose abhängig. Hilfreich zur weiteren Einschätzung sind Fragen nach Häufigkeit, Intensität gemessen an der VAS-Skala (0–10), Trigger und Verstärker, Lokalisation, Dauer und vegetativer Begleitsymptomatik wie Übelkeit und Erbrechen sowie fokalen neurologischen Ausfällen. Medikamente und Begleiterkrankungen gehören natürlich auch wie immer abgefragt. Da Schmerz nicht objektivierbar ist, gibt es keine harten Entscheidungskriterien, sondern die Erfahrung und die richtige Einschätzung des Mediziners sind gefordert.
Brössner: … dann wäre das, dass kein Patient zuhause sitzen bleibt und leidet, sondern sich in Behandlung begibt. Freuen würde ich mich auch, wenn im Sinne unserer Patienten bei den Allgemeinmedizinern das Interesse am Thema Kopfschmerz noch zunehmen würde. Ebenso wäre ein größerer Fokus im Rahmen der Ausbildung der Kollegen wünschenswert sowie ein universitärer Nukleus, der Kopfschmerzforschung in Österreich weiterbetreibt und Unterstützung findet.
Österreichische Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG): www.oeksg.at
Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft: www.dmkg.de
Deutsche Gesellschaft für Neurologie – Leitlinien: www.dgn.org/leitlinien
Kapitel: Kopfschmerzen und andere Schmerzen