Die jüngsten Entwicklungen in der Hämatologie und Onkologie sind durch einen gewaltigen Innovationsschub charakterisiert. So wurden allein in den vergangenen drei Jahren 20 Medikamente neu oder mit neuer Indikation für die Behandlung von Blut- und Krebserkrankungen zugelassen. Bei der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln betraf ein Drittel Präparate aus der Hämatologie und Onkologie. Damit ist das Fachgebiet einer der Innovationsmotoren für den medizinischen Fortschritt. Beispiele sind eine normale Lebenserwartung bei chronischer myeloischer Leukämie, höhere Heilungschancen und eine längere Lebenserwartung bei Non-Hodgkin-Lymphomen oder niedrigere Rückfallraten und eine längere Überlebenszeit bei Brustkrebs.
Einer der Schwerpunkte der Jahrestagung: das Thema „Tumorheterogenität“. Beleuchtet wurde die Entwicklung genetischer Vielfalt im Tumor und in den Metastasen sowie die Mechanismen, die diese Entwicklungen steuern. Dabei wurden genetische Ursachen ebenso diskutiert wie Einflüsse aus der Tumorumgebung. „Zellen ein und desselben Tumors können unterschiedliche genetische Merkmale aufweisen“, betonte Kongresspräsident Univ.-Prof. Dr. Richard Greil. Eine mögliche Konsequenz sei die Resistenz von Zellen in Teilen eines Tumors, obwohl ein Großteil des Tumors im Rahmen von medikamentösen Therapien behandelbar wäre. Diese Eigenschaft von bestimmten Tumorarten, genetisch heterogen zu sein, sodass unterschiedliche Anteile des Tumors unterschiedlich auf therapeutische Interventionen ansprechen, mache laut Greil die Implementierung neuer therapeutischer Strategien notwendig. „Wir müssen uns der Frage stellen, welche neuen therapeutischen Strategien wir gemeinsam entwickeln müssen und mit welchen Formen von Studiendesigns wir den Herausforderungen, die die Tumorheterogenität an uns stellt, begegnen können.“ Ein wichtiger Weg, so der Kongresspräsident, sei beispielsweise die Identifizierung von Gemeinsamkeiten aller Zellen eines entsprechenden Tumors, die therapeutisch angesprochen werden könnten.
Aus den bislang erzielten Lebenszeitgewinnen und der noch zu erwartenden Entwicklung ergeben sich für Patienten, Angehörige und Behandelnde Chancen und Herausforderungen zugleich. Verschiedene Krebsformen, die noch vor wenigen Jahren einen akuten Verlauf nahmen, zeigen heute chronische Entwicklungsformen – und damit eine längere Lebenserwartung für die Patienten. So gewinnen als Folge der verbesserten Tumordiagnose Langzeit-Toxizitäten zunehmend an Bedeutung. Neben körperlichen Nebenwirkungen rücken psychische und soziale Aspekte in das Zentrum der Behandlung. Viele Patienten sehen sich mit negativen finanziellen und sozialen Auswirkungen konfrontiert. In diesem Zusammenhang braucht ärztliches und pflegerisches Personal eine entsprechende Expertise. Greil: „Unser Fachgebiet muss sich neben originär medizinischen Fragestellungen wie z.B. zur Krebsheterogenität auch ganz neuen Herausforderungen stellen, die sich beispielsweise aus den Folgen des demografischen Wandels beim Themenkomplex ‚Krebs und Armut‘ ganz konkret zeigen.“
Greil erläuterte mögliche Zusammenhänge von sozioökonomischem Status und der Entstehung sowie dem Verlauf von Krebserkrankungen. „Krebs fördert Armut, und Armut fördert Krebs“, konstatierte Greil. So haben Krebspatienten eine schlechtere berufliche Prognose und sind damit wirtschaftlich weniger gut gestellt.
Mit diesem Wissen und vor dem Hintergrund der Herausforderungen des demografischen Wandels betonte Univ.-Prof. Dr. Mathias Freund von der DGHO: „Unser aller Aufgabe wird es sein, dafür zu kämpfen, dass ältere Patienten nicht aufgrund ihres Alters bei therapeutischen Entscheidungen bewusst oder unbewusst benachteiligt werden.“
Als eines der Best Abstracts wurde die Arbeit „Sorafenib bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasierendem radioiodrefraktärem differenziertem Schilddrüsen-Karzinom“ ausgezeichnet. Für Patienten mit fortgeschrittenem Schilddrüsenkrebs gibt es fast keine wirksamen Medikamente. Die große internationale, von Prof. Ralf Paschke aus Leipzig vorgestellte Studie zeigt erstmals, dass das gezielte Medikament Sorafenib bei diesen Patienten zu einem Rückgang der Erkrankung und zu einer längeren krankheits-freien Zeit führt.
Ein ungelöstes Rätsel in der Krebsforschung sind ruhende Tumorzellen, so genannte Schläfer. Wie können Zellen, zum Beispiel bei Brustkrebs, oft über Jahre mit wenig Stoffwechselaktivität existieren? Ein Forschungsteam um PD Dr. Dr. Sonja Loges aus Hamburg identifizierte das Growth Arrest-Specific Antigen 6 (Gas6) als möglicherweise kritischen Regulator. Auch diese Arbeit wurde als einer der besten Beiträge des Kongresses ausgezeichnet.
Freund sprach sich entschieden für eine verstärkte Nachwuchsförderung im Bereich der Onkologie aus. Die Förderung von ärztlichem Nachwuchs sowohl in Forschung als auch in der Praxis sei für die Onkologie von eminenter Bedeutung. „Wir werden die neuen Herausforderungen in der Hämatologie und Onkologie nur meistern, wenn wir den wissenschaftlichen und ärztlichen Nachwuchs für das Fachgebiet begeistern.“ In diesem Zusammenhang verwies Freund außerdem auf die im Rahmen der Jahrestagung verliehenen Preise für junge Ärzte. „Medizin braucht Innovation, und Innovation braucht junge Menschen“, so Freund.
Vor dem Hintergrund eines gemeinsam mit der José-Carreras-Leukämie-Stiftung ins Leben gerufenen Promotionsstipendiums machte Freund die Motivation der Fachgesellschaft deutlich: „Wir möchten Studierende der Humanmedizin und anderer benachbarter Fachgebiete motivieren, sich im Rahmen ihrer Promotionsarbeit über ein Jahr Vollzeit mit der Leukämieforschung zu beschäftigen. Diese Forschung hilft den Betroffenen, liefert aber auch entscheidende Impulse für die Diagnose und Therapie anderer bösartiger Erkrankungen. Und wir hoffen darauf, die jungen Menschen auch langfristig für die Wissenschaft zu motivieren.“
Neben den medizinischen Innovationen der letzten Jahre beleuchten die Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unter der Überschrift „Interdisziplinarität“ einen weiteren Fokus der Jahrestagung: Wie können ärztliches, pflegerisches und therapeutisches Handeln optimal verzahnt werden, so dass Patienten von beispielsweise medikamentösen Innovationen und der Weiterentwicklung therapeutischer Standards in höchstem Maße profitieren können? Auf der traditionell integrierten Pflegetagung diskutierten Pflegekräfte sowie Ärzte im Rahmen von gemeinsamen Sitzungen und Workshops mögliche Verbesserungen und Weiterentwicklungen interdisziplinärer Behandlungsansätze. Darüber hinaus wurde über die Herausforderungen der geriatrischen Onkologie und der Psychoonkologie diskutiert.