Zwei Jahre nach Erstveröffentlichung der Leitlinie S1 „Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien“ hat die Leitliniengruppe aus Österreich eine aktualisierte und weiterentwickelte Version dieser Leitlinie publiziert (oegam.at/artikel/leitlinie-s1-und-webtool). Sie versteht sich als Update zum Post-COVID-Syndrom, aber auch als Erweiterung der Inhalte auf die übergeordnete Gruppe der postviralen Zustände anhand des Beispiels Long COVID/Post COVID – es handelt sich auch weiterhin um eine Living Guideline, die auch als Webtool einfach verfügbar (www.kl.ac.at/de/allgemeine-gesundheitsstudien/long-covid-leitlinie) ist und frei zugänglich für eine rasche Verwendung im Praxisalltag dienen soll.
Für die weitere Benennung des Long COVID/Post COVID blieb die Leitliniengruppe bei der Definition der NICE-Guidelines: Das Post-COVID-Syndrom sind Befunde und Symptome, die während oder nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 entstehen und zu den bei COVID-19 beobachteten Symptomen passen, die mehr als 12 Wochen dauern und bei denen keine andere erkennbare Ursache vorliegt. Eine weitere Definition ist jene der WHO namens „Post-COVID-Condition“. Es kommt zur Manifestation bis 3 (!) Monate nach Beginn der Erkrankung, die Symptome bestehen mehr als 2 Monate und sind nicht durch eine andere Diagnose erklärbar. Sie haben Bedeutung für die Alltagsfunktion der Betroffenen, können eventuell nach initialer Erholung, aber auch unmittelbar seit der initialen Erkrankung bestehen und sowohl fluktuieren als auch rezidivieren.
Deutlich wird hierbei somit schon die Komplexität und Herausforderung des Post-COVID-Syndroms, nicht nur für uns aus ärztlicher Sicht, sondern auch für die Betroffenen selbst.
Zusätzlich wurde die Leitlinie auf den übergeordneten Begriff der postviralen Syndrome erweitert. Schwerpunkt der Leitlinie liegt auf der praktischen Anwendbarkeit in der hausärztlichen Primärversorgung, die wichtiger Erstzutritt und geeignete Stelle für die weitere Betreuung und Behandlung ist. An dieser Stelle sei vor allem das neue Kapitel „Versorgungsweg“ erwähnt, das konkrete und spezifische Algorithmen und Handlungsempfehlungen an die Gegebenheiten des österreichischen Gesundheitssystems bietet. Weiterhin beschäftigt sich die Leitlinie auch mit therapeutischen Optionen, Patientenführung und -betreuung sowie Wiedereingliederung in den Alltag sowie Rehabilitation. Ein weiteres Novum ist hierbei auch die Ergänzung durch den Leitfaden Ergotherapie (link.springer.com/article/10.1007/s00508-023-02243-y), um der Notwendigkeit eines interprofessionellen Zugangs gerecht zu werden. Während sich die Erstfassung noch weitgehend auf die Differenzialdiagnostik von unspezifischen Symptomen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 und auf das Management dieser Symptome vor allem innerhalb der ersten 12 Wochen nach Erkrankungsbeginn konzentrierte, beschreibt diese Leitlinie jetzt auch das Management postviraler Zustände über einen längeren Zeitraum hinaus und schlägt ein Abklärungs- und Betreuungsschema der beteiligten Ebenen des Gesundheitssystems vor.
Die neue S1-Leitlinie gibt somit Überblick über die bisherigen Erkenntnisse zu den Folgezuständen nach COVID-19, neuerlich geordnet nach Organsystemen bzw. funktionellen Einheiten, aber auch unter Aufführung vorhandener und oft mehrdeutiger Symptome, wobei hier der typischen hausärztlichen Vorgangsweise bei der Differenzialdiagnostik gefolgt wird und Querverbindungen zu den entsprechenden anderen Stellen in der Leitlinie geschaffen werden – online durch hinterlegte links via einfachen Mausklick erreichbar.
Zielsetzung dabei ist der Ausschluss bzw. die Abklärung von Erkrankungen anderer Ursache sowie organisch struktureller Ursachen als Folge von SARS-CoV-2, der akuten COVID-19-Erkrankung oder ihrer Komplikationen, das Erkennen von Verschlechterungen vorbestehender Erkrankungen im Gefolge der Infektion sowie die Abgrenzung zu anhaltenden Störungen durch postvirale Folgezustände direkt durch die SARS-CoV-2-Infektion.
Weiters beschäftigt sich die Leitlinie auch mit der Behandlung der zugeordneten Störungen, vor allem mit der Betreuung (Vermeidung iatrogener Verstärkung, Vermeidung von Chronifizierung) sowie Coping bei Post COVID. Für ein den Rahmen dieser Leitlinie sprengendes Zustandsbild des ME/CFS wird auf weiterführende Literatur verwiesen (S3-Leitlinie der DEGAM „Müdigkeit“, AWMF S1-Leitlinie Long/Post COVID, NICE). Für medikamentöse, in Erprobung befindliche Therapieoptionen werden keine Empfehlungen abgegeben.
In der Leitlinie selbst befinden sich praktische Tools wie z. B. Anamnesetools (ANS-Anamnesetool, Post-COVID-Skale des funktionellen Status, Fatigue-Assessment-Scale u. v. m.), übersichtliche tabellarische Auflistungen und Darstellungen verfügbarer Skalen und Scores sowie Behandlungspfade und wichtige Empfehlungen zu den einzelnen spezifischen Thematiken.
Auf der Seite der ÖGAM (oegam.at/artikel/leitlinie-s1-und-webtool) finden sich zusätzlich die Kurzfassung der Leitlinie sowie grafische Ergänzungen durch Flowcharts zur idealen Versorgung von Betroffenen mit Long/Post COVID oder mehrdeutiger Symptomatik, Wege der Differenzialdiagnostik und Abklärungspfade zur postviralen Fatigue, zum posturalen Tachykardiesyndrom und Mastzellaktivierungssyndrom.