Leitlinien und Umsetzung in die Praxis

Es ergibt Sinn, sich manchmal die Differenzialdiagnosen durch den Kopf gehen zu lassen, anbei eine Zusammenfassung aus den EBM-Guide-lines (Tab. 1), jeweils verbunden mit einem kurzen Statement.
Gerade in der hausärztlichen Versorgung und durch das Wesen unserer Arbeit dort haben wir zwei Vorteile: Wir sehen verschiedenste Patient:innen mit dem gleichen führenden Symptom (Thoraxschmerz), jedoch in unterschiedlichsten Stadien und Ausformungen, aber auch einzelne Patient:innen durch die kontinuierliche Versorgung öfter (kumulativer Eindruck) – dadurch entwickeln wir mit der Erfahrung ein Gespür, „in welche Richtung es geht“. Eine konzentrierte Anamnese, ein klinischer Status und je nach Verfügbarkeit rasche Akutdiagnostik sind naturgemäß jedoch weiterhin Mittel der Wahl zur Bestätigung unseres „Bauchgefühls“ – die Intuition, welche unbewusst auf Erlebtes und dabei Gelerntes zurückgreift – eine Art Erfahrungsgedächtnis.

Information durch Ordinationsassist:in

Die erste Kontaktstelle in der Hausarztpraxis sind die Ordinationsassistent:innen: Diese müssen geschult sein und eine gewisse Awareness entwickeln, um bei Patient:innen, denen es „schlecht geht“, die über „Brustschmerzen“ klagen oder „schlecht Luft bekommen“, unmittelbar die Ärztin/den Arzt zu informieren, also solche Patient:innen nicht einfach im Wartezimmer sitzen zu lassen.

Anamnese

Ein kurzer ärztlicher Blick reicht aus, um eine akute vitale Gefährdung zu erfassen. Wenn keine unmittelbare Bedrohung der Vitalparameter besteht, erfolgt eine vertiefte Anamnese: Wann haben die Schmerzen begonnen? Wo befindet sich der Thoraxschmerz, wie wird dieser beschrieben, wodurch lässt sich der Schmerz verstärken, gibt es Triggerpunkte? Gibt es Begleitsymptome? Wie hoch ist die Vortestwahrscheinlichkeit für ein ACS?
Auf einen Kurzstatus dürfen wir nicht verzichten: Begutachtung des Patienten oder der Patientin gesamt, der Hautfarbe und der Unterschenkel, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Auskultation.
Vertiefte Anamnese und Kurzstatus sowie eine erste Einschätzung der Situation haben wir oft genug praktiziert, das beherrschen wir.
Ein EKG ist rasch geschrieben. Bei unauffälligem oder unspezifischem EKG und wenn die Symptomatik länger als 3 Stunden besteht, ergibt evtl. die Verfügbarkeit einer Schnelldiagnostik Sinn (D-Dimer und Troponin aus dem Blut bestimmen).
Je nach Verdachtsdiagnose werden dann die weiteren Schritte eingeleitet:
Therapie (z. B. Protonenpumpenhemmer, Manualtherapie …) mit baldiger Wiederbestellung oder manchmal auch Verlaufsbeobachtung (z. B. nach einer Schmerzinfusion) oder Überweisung ins Krankenhaus mit oder ohne Notärzt:innenbegleitung parallel zur Erstbehandlung (hier nur Schlagwörter, keine Vollständigkeit!):

  • bei ACS-Verdacht Acetylsalicylsäure (ASS) – wenn nicht bereits eine Dauertherapie, Nitrospray bei systolischem Druck über 100 mmHg, Sauerstoffgabe akutes Koronarsyndrom bei Sauerstoffsättigung < 94 %, Morphium 5 (bis 10) mg parenteral bei starken Thoraxschmerzen, bei Tachykardie oder hypertensiver Entgleisung Betablocker langsam i. v.
  • bei Verdacht auf Lungenembolie neue orale Antikoagulanzien (NOAK) oder niedermolekulare Heparine (NMH) in entsprechender Dosierung, Sauerstoff. Parenteral Flüssigkeit bei niedrigen Blutdruckwerten.

Fallbeispiel

Ein Fallbeispiel aus meiner Praxis zeigt, dass man immer auf der Hut sein muss und dass man sich auch gewaltig täuschen kann:
Um 10:00 Uhr betritt ein 54-jähriger Patient die Praxis (in meinem Fall: das PVZ). Er beschreibt obere Rückenschmerzen – interscapular linksbetont nach genauerer Exploration – seit den frühen Morgenstunden nach Heben eines schweren Gegenstandes in das Auto. Eine Luftnot wird verneint. Klinisch ist für mich ein Problem des Bewegungsapparates recht eindeutig, wohl eine vertebrokostale Blockierung. Nach manualtherapeutischen Manipulationen und Mobilisationen geht es dem Patienten deutlich besser. Instinktiv und wahrscheinlich, weil es gerade ein bisschen ruhiger im Praxisalltag ist, bitte ich die Krankenschwester dennoch, ein Ruhe-EKG zu schreiben. Und was zeigt sich hier? Ein klassischer diaphragmaler STEMI (ST-Streckenhebungs-Myokardinfarkt)! Die entsprechenden Maßnahmen werden veranlasst, und ein Transport mit Notarztbegleitung ins Klinikum Wels wird organisiert (Tab. 2).

Was lernt man daraus?

  • Sich ausschließlich auf das Gefühl zu verlassen kann manchmal unzureichend sein.
  • In der Medizin gibt es immer wieder Überraschungen.
  • Selbst bei guter Betreuungsqualität und bei hohem Engagement kann man relevante Erkrankungen übersehen, ein starker Zeitdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit deutlich.
  • Standards könnten hier die Chance des Übersehens reduzieren: „Jeder Thoraxschmerz bekommt ein EKG.“