Medizinischer Notfall Klimakrise

 

Ein medizinischer Notfall der anderen Art

Wenn wir die Fachdefinition und die Grundwerte unseres Faches ernst nehmen, müssen wir in der Allgemein- und Familienmedizin auch ein offenes Auge und Ohr für umweltbezogene Probleme, Einflüsse und Gesundheitsrisiken haben und ein besseres Bewusstsein für diese Thematik entwickeln. Klimawandel und Umwelteinflüsse spielen eine Rolle, bereits deutlich spürbar auch in unserer täglichen Arbeit. Es freut uns daher sehr, dass wir in dieser Ausgabe der ÖGAM-News einen Gastbeitrag des Autorenteams des Buches „Gesundheit in der Klimakrise“ mit unserer Leserschaft teilen können – herzlichen Dank an Prof. DI Dr. Hans-Peter Hutter (Hrsg.) und sein Team!

Im Namen des Redaktionsteams und der ÖGAM: Dr.in Maria Wendler


Für den Gesundheitssektor bedeutet das noch mehr und neue Herausforderungen. Um die Dimension zu verdeutlichen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet den Klimawandel als „die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit“ und erkennt das Pariser Abkommen (2015) als das wichtigste Public-Health-Abkommen des 21. Jahrhunderts an. Stichwort Dimension: Wo stehen wir aktuell hinsichtlich der Temperaturzunahme? Kürzlich veröffentlichte Daten von Copernicus (Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Kommission und World Meteorological Association, WMO) zeigen, dass sich die Temperatur global um 1,15 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter (Mittel der letzten fünf Jahre im Vergleich zum Mittel 1850–1900) erwärmt hat, in Europa bereits um 2,3 Grad. Und in Österreich sogar um 2,7 Grad. Die Temperaturen in Europa sind also doppelt so schnell gestiegen wie im globalen Durchschnitt. Die Hauptursache liegt darin, dass sich die Luft über terrestrischen Flächen stärker erwärmt als über thermisch trägeren Weltmeeren – mit immer deutlicher spürbaren Folgen. Laut Klimawandeldienst der EU waren die vergangenen sieben Jahre (bis 2021) global die wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Der Sommer 2022 war der heißeste, der je in Europa erfasst wurde und ging mit teils enormen Dürren einher.

Direkte Gesundheitseffekte: Wetterextreme

Was bedeutet das für unsere Gesundheit?
Jedenfalls eine Menge (siehe dazu Abb. 1). Im Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen häufig vor allem die direkten Gesundheitseffekte, insbesondere Extremwetterereignisse. So sind etwa Hitzeperioden – neben mentalen, körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen bzw. Leistungsminderungen – nachweislich mit erhöhter Sterblichkeit verknüpft. Nach Angaben der WMO sind allein im Jahr 2022 über 16.000 Menschen aufgrund von Hitze in Europa gestorben.

In Zukunft ist ein weiterer deutlicher Anstieg an Hitzetagen zu erwarten, eine Verdoppelung bis Verdreifachung bis zum Jahr 2100 wird für Österreich prognostiziert. Dementsprechend wird auch die Zahl an Hitzetoten steigen. Umso bedenklicher sind daher die aktuellen wissenschaftlichen Befunde, die von einer deutlichen Verfehlung der Pariser Klimaziele (Eindämmung der Erderhitzung auf unter 2 °C bzw. 1,5 °C) bei Beibehaltung des derzeitigen, bei Weitem nicht ausreichenden Klimaschutzkurses ausgehen.

Die Hitzerisiken werden nach wie vor häufig nicht ernst genug genommen. Einige Gruppen sind in Hitzezeiten besonders gefährdet, etwa ältere Menschen und Personen mit chronischen Erkrankungen wie Herz- oder Atemwegserkrankungen, aber auch neurologischen Erkrankungen. Auch auf Säuglinge und Kleinkinder gilt es in Hitzephasen besonders zu achten, u. a. da ihre Fähigkeit zu schwitzen eingeschränkt ist. Personen mit Demenzerkrankungen, Menschen, die alleine und sozial isoliert leben oder an einer psychischen Erkrankung leiden. können oft nicht adäquat auf die Anzeichen von Hitzestress reagieren. Hinzu kommt die Wohnumgebung – ein wichtiger Faktor, der häufig die soziale Ungerechtigkeit umweltbedingter Risiken verdeutlicht: Handelt es sich um ein „betonbetontes“ Umfeld, das stark überhitzt und so nachts nicht ausreichend abkühlt, steigt das individuelle Gesundheitsrisiko erheblich (Stichwort „Hitzeinsel“).

Und nicht zuletzt gerät auch das Gesundheitssystem weiter unter Druck. Aufgrund der zahlreichen Beeinträchtigungen und Belastungen in der Bevölkerung droht u. a. eine massive Überforderung des Gesundheitswesens in Hitzephasen bei gleichzeitiger Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Gesundheitspersonals. Studien zeigen etwa (wenig überraschend) eine Zunahme der Fehlerrate bei steigender Temperatur sowie eine Abnahme der Arbeitsgeschwindigkeit.

Neben Hitze sind auch Starkregenereignisse von großer gesundheitlicher Bedeutung. Murenabgänge und Überschwemmungen haben weitreichende Folgen: von akuten Verletzungen und Todesfällen bis hin zu Schäden an Gebäuden mit langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit wie etwa durch Schimmelbildung. Aus überfluteten Altlasten können zudem Problemstoffe ausgeschwemmt werden, ins Grundwasser gelangen und so Trinkwasser verunreinigen. Die verheerenden Hochwässer 2021 in Mitteleuropa, speziell in Deutschland (134 Tote im Ahrtal), zeigen, wie hart und teils unvorbereitet uns Ereignisse solcher Größenordnung trotz eines vergleichsweise gut aufgestellten Katastrophenschutzes treffen können. Die wissenschaftliche Evidenz dazu ist deutlich: Solche und andere Extremwetterereignisse werden künftig an Häufigkeit und Intensität weiter zunehmen.

Oft unterschätzt: psychische Folgen

Diese Ereignisse können auch zu schwerwiegenden psychischen Belastungen führen, etwa Traumatisierungen durch Existenzverlust und die Nähe zu Leid und Tod. Posttraumatische Belastungsstörungen gehören dabei zu den häufigsten psychischen Folgen von Naturkatastrophen. Es können aber eine Reihe weiterer psychischer Auswirkungen auftreten, besonders Angststörungen und Depressionen. Häufig weniger beachtet werden auch die Folgen für Kinder. Umweltkatastrophen können u. a. zu Lern- und Verhaltensschwierigkeiten und Verzögerungen in der Sprachentwicklung führen.

Die Häufung von Unwettern kann darüber hinaus die vertraute Umgebung stark verändern, letztlich auch Absiedelungen nach sich ziehen. Dieser Verlust der vertrauten Umgebung, seiner Heimat kann so auch eine Art von schmerzlichem Heimweh auslösen („Solastalgie“). All das sind Aspekte von Klimawandelfolgen, die häufig nicht im Fokus stehen, aber mehr Aufmerksamkeit bedürfen.

„Aliens“ und Co

Mit dem Temperaturanstieg ist etwa durch die Verschiebung von Klimazonen u. a. auch von einer Zunahme gebietsfremder Arten (Neobiota, „Aliens“) mit gesundheitlicher Bedeutung auszugehen. Dazu zählt z. B. das aus Nordamerika stammende Ragweed (Ambrosia artemisiifolia) mit seinen hoch allergenen Pollen. Das hat neben den ernsten gesundheitlichen Auswirkungen (Allergien) auch erhebliche Gesundheitskosten zur Folge. Berechnungen zeigen, dass in Europa 13,5 Millionen Menschen von einer Ambrosiaallergie betroffen sind, was Gesundheitskosten von 7,4 Milliarden EUR pro Jahr verursacht.
Weiters können sich Krankheitsüberträger wie Stechmücken und Zecken in Regionen ausbreiten, in denen sie bisher nicht vorkamen. Bekanntes Beispiel dafür ist etwa die Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus) als potenzieller Überträger u. a. von Dengue- und Chikungunya-Erregern. Aber auch heimische Zecken verlagern ihr Vorkommen in höhere Lagen und damit auch das Risikogebiet für FSME und Borreliose.

Gesundheitssektor: Engagement gefragt

Die genannten Auswirkungen unterstreichen, wie eng unsere Gesundheit, aber auch der Gesundheitssektor allgemein mit dem Temperaturanstieg verknüpft sind. Allerdings ist das Gesundheitswesen nicht nur direkt von den Klimawandelfolgen betroffen, sondern trägt aufgrund der eigenen Emissionen auch signifikant dazu bei. Eine erstmalige, detaillierte Analyse des gesamten CO2-Fußabdrucks des österreichischen Gesundheitssektors zeigte, dass Krankenhausbetrieb, Pflege, ambulante Versorgung und Arzneimittel in Österreich im Jahr 2014 für rund 7 % des nationalen CO2-Fußabdrucks verantwortlich waren. Krankenhäuser verursachen fast ein Drittel dieses Fußabdrucks.

Das Gesundheitswesen trägt daher sowohl auf klinischer als auch präventiver Ebene Verantwortung, Maßnahmen zum Klimaschutz umzusetzen und zu kommunizieren. Wichtige Handlungsbereiche liegen z. B. in der Beschaffung (Stichwort Reduktion von Einwegprodukten, Umstieg auf umweltverträglichere Alternativen etc.), im Bereich Gebäude und Verkehr bzw. Mobilität.

Handeln mit Rückgrat statt Wendehals

„Wir konnten es nicht wissen“ wird niemand über diese Krise behaupten können, die wissenschaftlichen Belege türmen sich seit Jahrzehnten. Das macht die Untätigkeit und Zögerlichkeit der Politik umso unverständlicher. Denn ihr kommt – bei aller Notwendigkeit von persönlichem Engagement – die größte Verantwortung für umgehendes und vorausschauendes Handeln zu. Leicht durchschaubare Ablenkungsmanöver hinsichtlich der Säumigkeit bei Klimaschutzverpflichtungen, hohle Phrasen und Verzögerungstaktiken bzw. Hohn gegenüber (speziell jungen) Menschen, die sich für ihre Zukunft einsetzen, sind angesichts einer Problematik dieser Tragweite wirklich unwürdig.

Wie können wir es besser machen und der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen gerecht werden? Eine natur- und klimaverträglichere Welt ist auch „menschenverträglicher“. Der „Club of Rome“, ein Zusammenschluss von Expert:innen verschiedener Disziplinen aus über 30 Ländern, beschreibt in „Earth for All – ein Survivalguide für unseren Planeten“ fünf Wendepunkte, an denen anzusetzen wäre, um den größten Nutzen für alle zu erzielen. Das sind die Beseitigung der Armut, der Abbau von Ungleichheit, der Wandel hin zu einer regenerativen und naturverträglichen Landwirtschaft, eine umfassende Energiewende und die Gleichstellung der Frauen. Wenn man dies ohne Zynismus betrachtet, fällt es schwer, Argumente gegen die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels zu finden. Und es erscheint doch wesentlich motivierender und erfüllender, sich als Gesellschaft daran angelehnte Ziele zu stecken und Visionen zu formulieren, statt in Schockstarre zu verfallen oder krampfhaft alte Strukturen zu verteidigen, die bereits jetzt – und in Zukunft noch mehr – Ungerechtigkeit und Leid in hohem Ausmaß schaffen, oder statt eifrig die niedersten Instinkte zu bedienen.

Dem Gesundheitssektor kommt bei der Erhaltung unserer Lebensgrundlagen eine wichtige Rolle zu. In den aktuellen Ethik-Prinzipien des Weltärztebundes wird explizit auf die Verantwortung für künftige Generationen hingewiesen. Es ist daher auch aus medizinischer Sicht ein Auftrag gegeben, sich in diesem Prozess zu engagieren bzw. dies bei politisch Verantwortlichen einzufordern, um menschliches Leid und nicht zuletzt Risiken für unser Gesundheitssystem zu minimieren. Wenn wir uns auf die Achtung eines Lebens in Würde für alle besinnen, sind wir auf dem richtigen Weg. Das impliziert auch den Schutz unserer natürlichen Ressourcen. Und das könnte doch ein optimistischer und versöhnlicher Wegweiser durch die Krisen und Spannungen unserer Zeit sein.