Katharina Pils: Es gibt verschiedene große Blöcke, die für mich Highlights waren. Der erste ist die Polypharmazie und das Projekt Choosing Wisely® aus den USA. Es ist immer die Frage, wie viele Medikamente nützlich für einen Patienten sind und die Lebenszeit und -qualität verbessern, und wann die Behandlung zu schaden beginnt. Es kommt jetzt endlich auch zu einer Vernetzung der Geriatrie mit dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger, den evidenzbasierten Medizinern und der Apothekerkammer. Es geht also wirklich um einen breiter gefassten Dialog.
Bei Choosing Wisely® stellt man Vorgehensweisen in Frage, die zum Spitals- oder Medizineralltag gehören. Beispielsweise, ob wirklich bei jedem Patienten bei der Aufnahme ein Lungenröntgen gemacht werden muss. Das war früher von großer Bedeutung, als Tuberkulose noch sehr häufig war, ist aber heute kein großes Thema mehr. Im Rahmen dieses Choosing-Wisely®-Projekts ist man dazu aufgefordert, selbst zu erkennen, was die Rituale sind, die wir nicht mehr brauchen. Ich denke, aus dieser immerwährenden Diskussion heraus entsteht viel gutes Neues. Dort wird die Zukunft der Polypharmazie liegen müssen. Wir müssen sehen, was die Pharmaindustrie neues Spannendes auf den Markt bringt, was gute und alt etablierte Dinge sind, und was hat an Bedeutung verloren?
Ein zweiter wesentlicher Schwerpunkt war die Alterstraumatologie. Ältere Menschen haben ein hohes Risiko für Verletzungen v.a. mit einem geringen Trauma und damit ein erhöhtes Risiko für Frakturen. Die bestmögliche Versorgung dieser Patienten wäre dann gegeben, wenn schon in der Notfallaufnahme nicht nur ein Notfallmediziner oder Unfallchirurg sitzt, sondern auch ein Geriater, der diese Menschen von Anfang an mitbegleitet. Der Unfallchirurg wird auch durch die Einschätzung des Geriaters besser erkennen können, welches Implantat zu wählen ist. Es ist natürlich ein Unterschied, ob ein Patient zuvor noch sportlich aktiv war und die Funktion wichtig ist oder ob er schon ein pflegebedürftiger Mensch gewesen ist und es somit reicht, die Fraktur nur zu stabilisieren.
Diese Zusammenarbeit hat auch die Delirprävention zum Fokus, denn besonders ältere Menschen mit Einschränkungen ihrer Sinne haben ein höheres Risiko, an einem Delir zu erkranken. Wird dieses Risiko früh erkannt und dem Patient werden von Anfang an banale Dinge wie seine Brille, sein Hörgerät und genug zu Trinken gegeben und wird immer wieder ausführlich erklärt, was passiert ist und was der nächste Schritt sein wird, hat der Patient ein wesentlich geringeres Risiko für ein Delir. Auch die Auswahl der Medikamente spielt wieder eine Rolle. Es gibt z.B. Schmerzmedikamente, die das Delirrisiko fördern bzw. auch welche, die das nicht beeinflussen. Daher ist diese Zusammenarbeit zwischen Unfallchirurgie und Geriatrie so gut für den Patienten.
Zu dieser Thematik gibt es auch eine Arbeitsgruppe, die an einer noch dieses Jahr erscheinenden Broschüre arbeitet, in der für Geriater und Unfallchirurgen und Allgemeinmediziner einfach dargelegt wird, was wann wie bestmöglich zu passieren hat.
Wir hoffen, dass der Geriater eine gewisse Kontinuität im Spital schafft. Im Prinzip ist er wie ein Internist oder Stationsarzt, der eine zusätzliche geriatrische Expertise hat und auch mit der Pflege und den Therapeuten kommuniziert. Um einen verunfallten Patienten sollte sich immer ein großes Team scharren, das vom Geriater koordiniert wird. Zu diesem Thema haben wir auch engen Kontakt zur deutschen Arbeitsgruppe und können voneinander lernen.
Eines der ersten Projekte in Österreich hierzu gab es an der Universitätsklinik in Innsbruck, wo auf der Unfallchirurgie die Geriater fixer Bestandteil des Teams sind. Ähnlich ist es in Nürnberg, wo der Geriater PD Dr. Markus Gosch, MAS, eine Gallionsfigur war. Am Landeskrankenhaus Klagenfurt hat Prim. Dr. Georg Pinter als Geriater die Notfallaufnahme geleitet. Was wir wollen, ist, dass aus diesen Pilotprojekten der Standard wird.
Sehr beschäftigt haben wir uns auch mit Qualitätszertifikaten für Pflegeheime. Es gibt bereits das nationale Zertifikat NQZ (Nationales Qualitätszertifikat). In einem weiteren Schritt soll hier auch die medizinische Qualität beurteilt werden. Wie das gehen kann, erarbeiten wir derzeit. Es gibt in Österreich sehr viele verschiedene Betreuungsmodelle, die wir jetzt evaluieren wollen. Letztendlich ist es für einen Pflegeheimbewohner nicht günstig, wenn er bei jedem relativ banalen Problem in ein Krankenhaus gebracht wird.
Am Kongress wurde von Dr. Georg Ruppe, MA auch die 100-Jährigen-Studie präsentiert. In dieser Studie geht es darum, herauszufinden, was 100-Jährige besonders gut können, was ist der Motor für ihr hohes Alter? Neben Ernährung und genetischer Disposition spielen soziale Aspekte eine wesentliche Rolle. Das wurde auch von Dr. Des O’Neill aus Dublin noch einmal betont, der mit seiner „Social Dividend of Aging“ darstellt, wie viel Positives ältere Menschen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, einbringen. Auf der einen Seite durch die Unterstützung ihrer Familien, durch die Freiwilligenarbeit mit Gleichaltrigen, aber auch inhaltlich. Wenn man sich ansieht, wie viel künstlerisches Potenzial alte Menschen haben und wie lange sie aktiv bleiben, müssen wir endlich aufhören, alte Menschen quasi in eine Kiste zu sperren und ihre Aktivitäten anerkennen und wertschätzen.
Das kann z.B. gemacht werden, wenn sich alte Menschen ehrenamtlich engagieren. In Wirklichkeit ist ein wesentlicher Motor für das Menschsein das Sinnfinden. Das wird für jeden von uns etwas anderes sein. Wir brauchen nur eine Gesellschaft, die das möglich macht und anerkennt, dass ältere Menschen diesen Sinn suchen und finden. Das ist natürlich im städtischen Bereich bis zu einem gewissen Grad durch die öffentlichen Verkehrsmittel leichter, im ländlichen Bereich wird es immer schwieriger. Auch das war Thema am Kongress – was passiert mit der Überalterung im ländlichen Bereich, dem Abzug der Jugend und dem gleichzeitigen Abschneiden der Verkehrsressourcen. Auch Technik im Alter spielt hier hinein. Was kann „ambiented assisted living“, was kann soziale Robotik einbringen? Dazu gibt es immer mehr Projekte: Einerseits zur Frage, wie man tatsächlich unterstützen kann, und auch wie Halbroboter soziale oder emotionale Defizite abfangen können.
Wo wir in den letzten 20 Jahren viel erreicht haben war die Etablierung der Abteilungen für Akutgeriatrie und Mobilisation, die es jetzt immerhin in sechs Bundesländern mit einem guten Personalstandard und gut strukturiert gibt.
Vor einigen Jahren haben wir es auch geschafft, das Additivfach für Geriatrie einzuführen. Jetzt gibt es aber die Ärzteausbildungsordnung Neu, und plötzlich wird das alles in Frage gestellt. Da ist für uns natürlich nicht erfreulich. Jetzt ist die Frage, wie sich die Geriatrie im neuen Fächerkanon darstellen wird. Langfristig muss es zu einem Sonderfach Geriatrie kommen, so wie auch die Pädiatrie eine Sonderdisziplin ist. Alte und hochbetagte Patienten haben einfach andere Bedürfnisse und Ansprüche an einen behandelnden Arzt als Menschen in früheren Lebensphasen. Geriatrie ist eben nicht nur Medizin, sondern auch Pflege, therapeutischer Beruf, Psychologie und gemischt mit Sozialaspekten. Daher werden wir langfristig diesen Weg gehen müssen. In anderen Staaten der EU ist die Geriatrie bereits ein etabliertes Fach.
Ich wünsche mir vielleicht noch mehr Awareness für die Bedürfnisse der alten und hochbetagten Menschen, die an sich sicher auch vorhanden ist. Wenn es aber um die Fragilität geht, wenn die Menschen Hauskrankenpflege oder therapeutische Dienste benötigen, sollte es zur direkteren Kommunikation zwischen den Teammitgliedern kommen, mit fixen Besprechungen zwischen den betreuenden Personen, die die Krankenkasse auch finanzieren muss. Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir dieses Gespräch intensivieren, viele Kosten sparen können, weil unnötige Spitalseinweisungen vermieden werden können, weil unnötige Stürze mit allen Folgen vermieden werden können und weil letztendlich auch betreuende und pflegende Angehörige früher begleitet werden können. Wenn auf die Angehörigen keine Rücksicht genommen wird, werden sie selbst krank. Wir wissen, dass Angehörige von demenzkranken Patienten selbst ein höheres Risiko haben, an Demenz zu erkranken. Nicht wegen der Genetik, sondern weil sie in einer sozialen Isolation leben und sie einfach auch abbauen. Das ist ein wirklich sehr komplexes Thema.
Ich würde mir auch wünschen, dass sowohl die Allgemeinmediziner als auch die Internisten nicht nur die Organdiagnose sehen, sondern auch die Funktion. Denn wir können Diagnosen natürlich bis zu einem gewissen Grad behandeln, aber das hat alles nur dann eine Bedeutung, wenn die alltagsrelevanten Tätigkeiten dadurch verbessert werden. Wir behandeln schließlich nicht, damit Blutparameter besser werden, sondern damit Menschen zuhause besser zurechtkommen und weniger Schmerzen haben.