Vor einem Jahr noch waren viele Kinderambulanzen leer – wie sieht die aktuelle Auslastung aus?
OA Dr. Pachtner: Im Vergleich zum vergangenen Jahr könnte man natürlich sagen, dass wir viel mehr zu tun haben. Genaugenommen sind die Ambulanzzahlen jedoch mit jenen in den Jahren vor der Pandemie ident. Um Zahlen zu nennen: Im Klinikum Ost, in dem ich früher arbeitete, waren in den Herbst- und Wintermonaten an der Kinder-Notfallambulanz bis zu 200 Patienten und mehr pro 24-Stunden-Dienst der Durchschnitt.
Welche typischen und untypischen Infekte sehen Sie bei Kindern in dieser Erkältungssaison?
Untypisch ist die frühe RSV-Saison. Respiratorische Synzytial-Virus-Infektionen nehmen normalerweise erst im November/Dezember an Häufigkeit zu. Von einer anderen Kinderabteilung weiß ich, dass im Oktober bereits die Hälfte aller stationären Patienten eine obstruktive Bronchiolitis als Aufnahmediagnose hatte, das sind drei- bis viermal so viel wie vor der Pandemie. Typisch für diese Zeit sind die hohe Anzahl der respiratorischen viralen Infekte, die vielleicht jetzt noch etwas häufiger erscheinen, da sie im vergangenen Jahr ausblieben. Auch die viralen und bakteriellen Gastroenteritiden sind in diesem Jahr – saisonbedingt – wieder im Umlauf, aber nicht häufiger als vor der Pandemie.
Wann ist eine Zuweisung an die Kinder-ambulanz in jedem Fall angezeigt?
Ganz grob kann man sagen, dass die Trinkverweigerung und die Wesensveränderung eines Kindes immer als Warnsymptome gesehen werden müssen. Hier ist eine ambulante Vorstellung – außerhalb der Ordinationszeiten – immer ratsam. Sowohl bei den respiratorischen als auch bei Magen-Darm-Infekten stehen die symptomatische Therapie und die ausreichende Flüssigkeitszufuhr im Vordergrund. Glücklicherweise benötigen 95 % aller ambulanten Vorstellungen keine stationäre Behandlung.
Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der COVID-Maßnahmen auf die Gesundheit der Kinder im Gesamten?
Als pädiatrischer Gastroenterologe sehe ich schon, dass jetzt wesentlich mehr Kinder als vor der Pandemie an chronischen Bauchschmerzen leiden. Die häufigste Diagnose ist hier der funktionelle Bauchschmerz, wie zum Beispiel das Reizdarmsyndrom, das ja unter anderem durch Stress und Ängste getriggert wird. Daraus kann man schließen, dass mehr Kinder unter psychischem Stress leiden. Aus Patientensicht sind sicherlich die Kinder die Leidtragenden dieser Pandemie, da einerseits zu Beginn keine Impfung für sie bereitstand und sie andererseits völlig aus dem sozialen Umfeld gerissen wurden. Zudem können die jüngeren die Tragweite einer Pandemie gar nicht begreifen – vor allem die jüngeren verstanden nur, dass es ein Virus gibt, das ältere Menschen tötet. Da auch Eltern von diesen Kindern als alt angesehen werden, kam es hier zu großen Verlustängsten, die dann unter anderem zu Symptomen wie Bauchschmerz, Übelkeit, Kopfschmerz und Depression führen können.
Für Kinder von 5-11 Jahren wurde die COVID-Impfung vielerorts noch vor ihrer Zulassung angeboten und durchgeführt. Wie stehen Sie dem gegenüber?
Mehr als 90 % aller Medikamente zur Behandlung von Frühgeborenen oder Kleinkindern auf Intensivstationen werden „off-label“ angewendet – nur ist das den meisten Betroffenen gar nicht bewusst. Ich finde die Diskussion zu diesem Thema daher ein wenig überhitzt. Zudem greift man mit einer Impfung – im Gegensatz zur Pharmakotherapie – nicht in physiologische Abläufe im Körper ein oder verändert diese, sondern simuliert eine Infektion. Ich bin davon überzeugt, dass die Wissenschaft heutzutage schon so weit ist, dass bereits jetzt eine annähernd 99,9%ige Sicherheit gegeben ist. Daher impfte ich auch meine Kinder schon vor Wochen „off-label“ gegen COVID.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde am 17. 11. 2021 geführt.