Melatonin: Chancen und Risiken

20 % der Kinder und Jugendlichen leiden unter Schlafstörungen. Dabei können Ein- oder Durchschlafprobleme sowie ein zu frühes morgendliches Erwachen auftreten. Das Umfeld, eine gute Schlafhygiene und Schlafroutinen sind hier wesentliche Einflussfaktoren.

Was macht guten Kinderschlaf aus?
Dr.in Regina Rath-Wacenovsky: Die Form des Kinderschlafes ist – wie alles andere in der Entwicklung von Kindern – abhängig vom Alter. So wird beim Baby nur zwischen REM- und Non-REM-Schlaf unterschieden. Andere Schlaf- bzw. Tiefschlafstadien kommen erst später hinzu und lassen sich in Form eines Hypnogramms darstellen. Kinderschlaf hat im Vergleich zu Erwachsenen einen wesentlich größeren Anteil an REM-Phasen („Traumphasen“). Diese gleichmäßige Schlafverteilung ist für Lernen und Entwicklung besonders wichtig. Bis zur Pubertät verändert sich der Schlaf, dann kann es zu Verschiebungen kommen, die herausfordernd sein können. Die dann auftretenden abweichenden Tagesrhythmen wie ein spätes Zubettgehen sind zwar nicht primär dem Medienkonsum geschuldet, werden dadurch aber verstärkt.

Welche Rolle spielt Melatonin dabei?
Schlaf wird immer gerne als etwas „Natürliches“ angesehen, das durch eine innere Uhr vorgegeben ist. Das ist aber ein Mythos. Unser Schlaf orientiert sich vielmehr an unseren äußeren Rhythmusgebern. Die Annahme, dass ein 8-Stunden-Schlaf das Optimum darstellt, entspringt einer Drittelung des Tages und geht vom 8-Stunden-Arbeitstag (Industrialisierung) aus. Unser Körper passt den Stoffwechsel und die Hormonausschüttung, insbesondere jene von Melatonin, unserer Umwelt und unseren Aufgaben an. Wahr ist aber, dass es verschiedene Schlaftypen gibt, die ihr Leistungsmaximum eher morgens oder abends erreichen („Eule“ bzw. „Lerche“).
Der wesentliche Faktor für den Schlaf ist das Umfeld. Das ist auch diagnostisch bei Schlafstörungen der Punkt, auf den man sich primär konzentrieren sollte. Das Melatonin ist hier ein wesentlicher Player, dessen Ausschüttung und Wirksamkeit vom Licht abhängen. Daher ist auch eine Melatonineinnahme mit nachfolgender Lichtexposition wenig bis kaum wirksam. Und deshalb fühlen wir uns auch im Sommer und im Winter zu unterschiedlichen Zeiten müde. Die wichtige Botschaft lautet: Wir können unseren Schlaf durch ein gesundes Umfeld bzw. einen entsprechenden Rhythmus gestalten, und unser inneres Melatonin ist ein Tool dafür.

Warum ist Melatonin aktuell ein wichtiges Thema?
Weil Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel eingestuft und nun in jeder nur erdenklichen Form erhältlich ist, sei es als Gummibärli, Saft oder Spray. Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter haben eine Prävalenz von ca. 20%, und somit kennt fast jede Familie eine Phase, in der es Probleme mit dem Schlaf des Kindes gibt. Da ist eine vermeintlich harmlose, natürliche Therapieoption natürlich verlockend. Melatonin birgt aber – insbesondere in hohen Dosen – durchaus ein Gefahrenpotenzial. So sind in den USA Kinder nach absichtlichem Medikamentenmissbrauch gestorben. Damit waren die Fachgesellschaften gefordert, die Kolleg:innen und Patient:innen zu informieren und eine ärztliche Verschreibung zu empfehlen. Melatonin ist ein mögliches Tool der Schlafmedizin, es kann jedoch bei einer entsprechenden Konstellation bzw. Überdosierung zu lebensgefährlichen Situationen kommen.

Wie hängen ADHS, Schlaf und Melatonin zusammen?
Früher beinhalteten die ADHS-Kriterien auch Schlafstörungen. Leider ist das heute nicht mehr der Fall, weshalb dieser Zusammenhang weniger Beachtung findet. Kinder mit ADHS weisen in 50–70 % der Fälle Schlafstörungen auf. Das umfasst Probleme beim Einschlafen, unruhigen Schlaf, nächtliches Erwachen und morgendliches Aufwachen, und dies ergibt häufig einen mühsamen Teufelskreis: Hyperaktive Kinder haben mit dem Schlaf Schwierigkeiten. Umgekehrt wissen wir, dass mangelnder oder mangelhafter Schlaf sogar bei gesunden Kindern zum Auftreten von großer Unruhe, oft auch mit ADHS-ähnlicher Symptomatik, führen kann. Das kennt man von kleinen Kindern: Wenn sie sehr müde sind, werden sie typischerweise nicht ruhiger, sondern aktiver, bis sie nicht mehr können. Kurz gesagt: Ein „überdrehtes Kind“ ist oft einfach nur müde. Melatonin ist eine wesentliche und relativ einfache Option, den beschriebenen Teufelskreis durch die Induktion eines guten, erholsamen Schlafes zu durchbrechen. Schlafmittel wie Barbiturate oder Benzodiazepine, wie wir sie aus der Erwachsenenmedizin kennen, sind in der Pädiatrie im Alltag ein No-Go, da sie zu keinem normalen Schlafprofil, sondern zu einem „verfälschten“ Schlaf mit unzureichender Erholung, Lernfähigkeit, Entwicklung und Wahrnehmung führen.

„Melatoninhaltige Arzneimittel können insbesondere bei Einschlafproblemen hilfreich sein. Im Kindesalter sollte die Anwendung nur unter ärztlicher Betreuung erfolgen.“

Was ist bei der Einnahme von Melatonin zu beachten?
Unter melatoninhaltigen Arzneimitteln kommt es zu einer raschen Freisetzung des Hormons, was insbesondere bei Einschlafproblemen, wie sie bei ADHS im Vordergrund stehen, von zentraler Bedeutung ist. Ohne richtige Schlafgewohnheiten bzw. -rituale wird Melatonin aber kaum funktionieren. Wann Melatonin grundsätzlich genommen werden soll, kommt auf die Galenik und die Indikation an. Generell muss man sich nach der jeweiligen Fachinformation richten, die pharmakodynamische und pharmakokinetische Faktoren berücksichtigt, und diese fehlen bei den als „Nahrungsergänzungsmittel“ eingestuften Melatoninformen. Jedenfalls braucht es eine ärztliche Betreuung, von einer Selbstmedikation ist dringend abzuraten. Darüber hinaus gibt es Kontraindikationen und natürlich auch Interaktionen mit anderen Medikamenten oder auch Substanzen, die wie Melatonin über das Cytochrom-P450-System metabolisiert werden.

Wie wichtig ist die angesprochene Schlafroutine?
Schlafroutinen sind essenziell und erlauben auch, den Schlaf zu beeinflussen. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Umgebung mit gewohnten Gerüchen und Geräuschen, aber auch Schlafrituale wie Gute-Nacht-Geschichten. Wichtig ist auch, den Schlafdruck, der sich bei jedem bzw. jeder von uns aufbaut, bei Kindern zu erkennen und ihnen die Möglichkeit zu geben, diesem Druck nachzugeben. Ein entscheidender Faktor ist, dass diese Rituale, wie z. B. Gute-Nacht-Geschichten, mit einem Menschen verbunden sind und nicht von einem digitalen Medium abgespielt werden. Dennoch stößt man auch im Umgang mit Schlafroutinen an Grenzen. Dabei muss man immer beachten, dass das perfekte Schlafen nicht existiert. Entgegen landläufiger Meinung gibt es auch Kinder, die tatsächlich nicht mehr als 6 Stunden Schlaf benötigen, um ausgeschlafen zu sein. Wenn dieses Kind um 20 Uhr ins Bett geschickt wird, ist es um 2 Uhr ausgeschlafen, wacht auf – und das Umfeld denkt, es handle sich um eine Schlafstörung. In solchen Fällen muss versucht werden, den Lebensrhythmus der gesamten Familie in Einklang zu bringen. Gleiches gilt für ein höheres Schlafbedürfnis des Kindes. Schlaf hat soziale, persönliche, kulturelle, chemisch-biologische sowie genetische Faktoren, die wir alle therapeutisch berücksichtigen müssen und nur zum Teil beeinflussen können.
Vielen Dank für das Gespräch!