In Österreich leben rund 350.600 Menschen mit Krebs. Es gibt mehr als 40.000 Neuerkrankungen pro Jahr, die Zahl wird sich bis 2040 verdoppeln. Die moderne Medizin lässt mit besseren Diagnose-, Therapie- und Nachsorgemöglichkeiten die Zahl der langfristig mit diesen Erkrankungen Lebenden immer mehr steigen. Die besten Ergebnisse werden unter aktiver Beteiligung der Betroffenen an allen wichtigen Entscheidungen erzielt. Hier gilt es, einen weiteren Schritt zu machen, hieß es beim 118. Gesundheitspolitischen Forum: „Von Selbsthilfe zu Patient Advocacy – für ein Miteinander auf Augenhöhe in der Onkologie“, lautete der Titel. „Auf Augenhöhe – wer will das nicht? Jede/jeder von uns ist einmal Patientin oder Patient. Man möchte nicht nur sitzen oder liegen und behandelt werden. Informierte Entscheidungen sind sehr wesentlich. Dafür braucht man Informationen“, sagte der Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, Dr. Jan O. Huber. Das sei allerdings offenbar „in unserem teilweise patriarchalischen Gesundheitswesen noch nicht immer und überall durchgedrungen“.
An sich haben Selbsthilfegruppen und PatientInnorganisationen in Österreich bereits eine lange Tradition. Derzeit sind rund 1.700 Selbsthilfegruppen und Vereinigungen von PatientInnen tätig, betonte Helga Thurnher, Präsidentin der Selbsthilfe Darmkrebs.
Ob das schon genug sei? Thurnher, mit Elfi Jirsa (Präsidentin der Myelom- und Lymphomhilfe Österreich), und Mitstreiter-Innen haben mit Jänner 2021 die neue „Allianz der onkologischen PatientInnenorganisationen“ gegründet. „Allianz bedeutet ein Bündnis von zwei bzw. mehreren gleichwertigen PartnerInnen“, so Thurnher, erste Obfrau der neuen Organisation. Information und Vertretung seien als Hauptagenden der bereits existierenden Initiativen natürlich wichtig. Doch, so Thurnher: „Die Allianz möchte darüber hinaus noch weiter kommen und mehr in Patient Advocacy und Patient Empowerment gehen. Wir wollen ein Miteinander auf Augenhöhe in der Onkologie erreichen, ein Bündnis zwischen Ärztinnen und Ärzten, PatientInnen und Gesundheitsberufen.“
Es komme auf viele Aspekte an: Patient-Innenvertretung, -beteiligung und evidenzbasierte Information mit wissenschaftlicher Kompetenz. Dafür sollte es in Zukunft auch eine akademische Ausbildung geben. Es gehe in Zukunft darum, in „Gesundheitspolitik, Forschungs- und Finanzierungsfragen“ mitzureden, um die „Verbesserung der Versorgung der PatientInnen voranzutreiben“.
Die vordringlichsten Anliegen der Allianz:
Thurnher: „Der ‚Patient im Mittelpunkt‘ lautet ein Schlagwort. Sehr richtig: Denn dort stört er am meisten. Wir als die Allianz wollen nicht die PatientInnen in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen sie und ihre Angehörigen in jeder Situation auf Augenhöhe haben. Wir wollen, dass nicht über die PatientInnen gesprochen wird, sondern mit den PatientInnen.“
Das neue Bündnis steht eindeutig auf dem Boden vieler Jahre Arbeit der verschiedensten PatientInnenorganisationen. Das betonte Elfi Jirsa, Co-Gründerin der Allianz und seit fast 20 Jahren Myelompatientin. In der Arbeit von Selbsthilfegruppen gehe es zunächst einmal um seriöse und verständliche Informationen, betonte die Proponentin des Bündnisses: „Man bekommt nicht automatisch mit der Diagnose Maturaniveau.“ Man müsse neue und alte Medien nützen. Gerade die COVID-19-Pandemie habe gezeigt, was auch Online-Medien leisten könnten. So hätten im Feber dieses Jahres 13.000 Menschen ein Online-Seminar ihrer Organisation, das aus vier Vorträgen bestand, abgerufen. Gleichzeitig dürfe man Menschen ohne Interneterfahrung nicht zurücklassen: „Es darf niemand ausgeschlossen sein.“
„Wir sehen uns als PatientInnenanwaltschaft“, sagte Jirsa. „Wir betreiben keine Kaffeekränzchen. Die Ressourcen der Allianz werden uns helfen, endlich auch in der Gesundheitspolitik gehört zu werden.“
Assoz. Prof. Dkfm. Dr. Guido Offermanns (Universität Klagenfurt), Leiter des Instituts für Krankenhausorganisation der Karl Landsteiner Gesellschaft, begleitet die Allianz onkologischer PatientInnenorganisationen wissenschaftlich. „In Österreich sind wir im Bereich der onkologischen Versorgung lediglich im Mittelfeld. Das hat überrascht. Dem Ressourceneinsatz entsprechend müssten wir im Spitzenfeld liegen. Wir sind im klinischen Bereich gut bis sehr gut aufgestellt, aber darüber hinaus gibt es sehr viele Aspekte, die nicht gut funktionieren und wo wir Verbesserungspotenziale haben“, erklärte der Experte. Gesundheitspotenziale lägen in den anderen Politikbereichen wie u. a. Bildung, Arbeit, Soziales und Wirtschaft. Der Akutbereich bestimme lediglich 20 % der Gesundheit der Menschen, sei aber natürlich im Zeitraum der onkologischen Behandlung sehr wichtig. „Dann müssen die Menschen mit Krebs, von denen immer mehr lange überleben, wieder in ihren Alltag integriert werden, was oft nicht gut funktioniert.“
„Wir sind in der Reparaturmedizin Weltmeister oder Europameister. Aber wir sind schlecht in der Prävention und in der Vorsorge“, betonte Univ.-Prof. Dr. Gabriela-Verena Kornek, Onkologin und Ärztliche Leiterin des AKH Wien sowie Präsidentin der Initiative „Leben mit Krebs“.
Kornek betonte Nachholbedarf bei der Erfassung der Lebensqualität und in der Kommunikation mit den PatientInnen: „Zum ‚Outcome‘: Was können wir aus der Krankengeschichte auf Knopfdruck herauslesen? Eigentlich nur das Überleben. Da steht aber nicht drin, wie es der Patientin/dem Patienten gegangen ist. Wir haben einfach viel zu wenig Zeit, um mit den PatientInnen zu sprechen, und wir dokumentieren viel zu wenig.“ Für sie, Kornek, gebe es die Vision, im AKH Wien ein onkologisches Ambulanzzentrum zu bauen, wo die SpezialistInnen zu den PatientInnen kämen.
Patient Advocacy, Fundraising, politisches Lobbying, Förderung von Awareness, MitarbeiterInnenförderung und Verbesserung der Versorgungsstrukturen – das alles sind laut Claas Röhl (NF Kinder, Pro Rare), ebenfalls in der neuen Allianz vertreten, Aufgaben der Zukunft. Ohne auf die Versorgung der PatientInnen in Sachen Kapazitäten und Qualität zu schauen, könne man nicht die vorhandenen Defizite sehen und für Verbesserungen sorgen. Das gehe über das althergebrachte Bild von Selbsthilfe weit hinaus: „Viele Menschen haben noch ein verstaubtes Bild von Selbsthilfe. Man stellt sich einen Kreis von Menschen vor, die am Stammtisch über ihre Probleme ‚sudern‘. PatientInnen sind nicht das Problem, sie sind Teil der Lösung.“
„In Österreich bekommen KrebspatientInnen eine sehr gute medizinische Behandlung. Beispielsweise werden neue Medikamente trotz der oftmals sehr hohen Kosten rasch bei der Patientin/beim Patienten eingesetzt. Jedoch gibt es in Österreich kaum Register, in denen die Lebensqualität oder die Nebenwirkungen dieser Therapien erfasst werden“, sagte Univ.-Doz. Dr. Ansgar Weltermann, Leiter des Zentrums für Tumorerkrankungen am Ordensklinikum Linz der Barmherzigen Schwestern und Elisabethinen.
„Die Messung der medizinischen Behandlungsqualität ermöglicht Fairness und Transparenz im System und ist für BehandlerInnen und PatientInnen wichtig. In Oberösterreich wurde hierzu mit vielen Kliniken ein gemeinsames Tumorzentrum geschaffen. Herzstück ist ein digitales Tumorregister, in welchem Daten zu Behandlungsqualität, Nebenwirkungen und Langzeitansprechen erhoben und analysiert werden“, sagte der Onkologe. Das betreffe auch die Erhebung von Kennzahlen wie Zeit bis zur Diagnose, Wartezeiten bis zur OP und andere Kriterien. „Wir haben gesehen, dass die gemeinsame Bewertung der Ergebnisse mit den Ärztinnen und Ärzten zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Versorgung führt.“