Weltweit absolvieren Schmerzpatienten monate- bis jahrelange Odysseen, bevor sie entsprechende Diagnosestellung und Behandlung erfahren1. Das Positionspapier der Fit for Work Europe Coalition vom Juli 2012 stuft das Risiko, durch Erkrankungen im Muskuloskelettalbereich in der Arbeitslosigkeit zu enden, dreifach höher als in der Normalbevölkerung ein2. Eine dänische Studie spricht sogar von einem siebenfach höheren Risiko3. 2011 litten geschätzte 1,76 Millionen Österreicher unter chronischen Schmerzen und mehr als eine halbe Million unter chronischen Rückenschmerzen. Bei den Pensionsneuzugängen wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit liegt diese Erkrankungsgruppe mit 31,04% an zweiter Stelle (Statistik Austria, PVA).
Laut dem Pain Proposal Patient Survey (Juli bis September 2010)4 dauert es im europäischen Schnitt 2,2 Jahre (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Irland, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien), bis Schmerzpatienten eine adäquate Diagnosestellung erfahren. 16% der Patienten erfahren keinerlei Diagnostik, bei 11% vergehen bis zu einer Diagnosestellung fünf bis zehn Jahre und mehr.
Chronische Schmerzpatienten frequentieren daher auch häufiger Gesundheitseinrichtungen5. Ein Schmerzpatient hat bis zu sieben (6,8) Arztkontakte, 22% sogar zehn und mehr. In Österreich werden Arztpraxen durchschnittlich achtmal pro Jahr frequentiert. Nach der Diagnosestellung erhalten nur 15% der Patienten innerhalb von drei Monaten eine entsprechende Therapie, jeweils 20% innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten und einem Jahr bzw. einem und fünf Jahren. 38% der Betroffenen erhalten keine adäquate Behandlung.
In Österreich dauert es bis zur Diagnosestellung durchschnittlich 1,7 Jahre und weitere 1,9 Jahre bis zu einer entsprechenden Behandlung. 18% der Patienten erfahren keine Diagnosestellung, 23% keine adäquate Behandlung. Durchschnittlich stufen Schmerzpatienten ihre Beeinträchtigung beim Verrichten alltäglicher Dinge bei 6,4 (Referenzwerte 1–10), in Österreich bei 5,9 ein6.
Frymoyer führt an, dass sich die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr an den Arbeitsplatz nach sechs Monaten Arbeitsausfall auf 50%, nach einem Jahr auf 20% reduziert und nach zwei Jahren gegen null geht, so nicht entsprechend intensive Therapiemaßnahmen eingeleitet werden7.
Die Abbildung zeigt den eklatanten Anstieg der direkten und indirekten Kosten bei Rückenschmerzpatienten in den USA zwischen 1970 und 1990. Amerikanische Studien bewiesen allerdings auch die Sinnhaftigkeit von Investitionen in das Gesundheitssystem: jeder zwischen 1980 und 2000 in das Gesundheitswesen investierte Dollar erwirtschaftete einen Ertrag von 1,5–2 Dollar in Form von höherer Lebenserwartung und verbesserter Gesundheit8 (s. Abb.).
Für Erkrankungen des Muskuloskelettalsystemes werden bis zu 2% des BIP aufgewendet. In Österreich würde dies bei einem Jahres-BIP von 237 Milliarden Euro einer Ausgabenhöhe von 5,5 Milliarden Euro entsprechen. Dieses Krankheitsbild zeichnet ursächlich für den Verlust von 660.000 Jahresarbeitstagen, die der Hälfte an Fehltagen entsprechen. Die Kosten der bei chronisch nicht spezifischen Rückenschmerzen anfallenden Krankenstandstage werden somit mit etwa 400 Milliarden Euro veranschlagt9. Bei 5% zur Chronifizierung neigenden Schmerzpatienten beläuft sich die alleinige Schätzung der direkten Kosten (mit nur einem Drittel der Gesamtkosten) in Österreich auf 1,4–1,8 Milliarden Euro.
Um einer Chronifizierung vorzugreifen, sollten bereits bei der Erstversorgung oder nach längstens sechswöchiger Erkrankungsdauer psychosoziale Risikofaktoren („yellow flags“; Tab. 3) in die Überlegungen einbezogen werden. Diese sind prognostisch wesentlich aussagekräftiger als körperliche Faktoren, werden allerdings in der aktuellen Versorgungspraxis nach wie vor in noch nicht ausreichendem Maße gewürdigt.
Die Nachhaltigkeit und Kosteneffizienz multimodal gestalteter zeitintensiver Therapiekonzepte ist mehrfach nachgewiesen worden10 und wurde entsprechend erfolgreich auch in Klagenfurt umgesetzt:
Im ersten Therapiejahr konnten bei 82 Rückenschmerzpatienten und 19 Personen in der Katamnese signifikante Verbesserungen und anhaltend stabile Ergebnisse in den Diagnosekriterien EuroQuol EQ-5D, SES, BDI, HADS, PDI bei gleichzeitig hoher Patientenzufriedenheit erreicht werden.
Wir erzielten signifikante Verbesserung:
Entscheidend für eine nachhaltige Wirksamkeit werden einerseits die frühzeitige Einbeziehung entsprechend motivierter Personen unter Berücksichtigung psychosozialer Risikofaktoren sowie andererseits die unabdingbare Zusammenarbeit gesundheits-, sozial- und wirtschaftspolitischer Verantwortungsträger im Hinblick auf eine Umsetzung der internationalen Menschenrechte12 sein.
Literatur:
1 Dewar AL et al., Chronic diseases in Canada 2009; 29:162–168
2 EU Reflection Process on Chronic Diseases: Supporting National Plans on Musculoskeletal Disorders. Ref. Ares(2012)288180; 12. 03. 2012
3 Eriksen J, Jensen MK, Sjogren P, Ekholm O, Rasmussen NK. Epidemiology of chronic non-malignant pain in Denmark. Pain 2003;106:221–228
4 Baker M et al., Improving the current and future management of chronic pain. A European Consensus Report 2010
5 Blyth FM et al., Pain 2004; 111:51–58
6 InSites Consulting. Pain Proposal Patient Survey. July–September 2010
7 Frymoyer JW, Clin Orthop Relat Res 1992; 279:101–107
8 Telser H et al., Gesundheitsausgaben und Krankheitskosten, Interpharma/Polynomics Basel 2011
9 Vavrovsky A for the Academy for Value in Health GmbH, Impulsreferat vom 04.12.2012: Die Auswirkungen von chronischem Schmerz in Österreich
10 Nagel B, Korb J. Multimodale Therapie – Nachhaltig wirksam und konsteneffektiv. Der Orthopäde 2009; 38(10):907–912, Flor et al 1992; Pain 49:221-230., Pfingsten 2001; Schmerz 15:492–498., Guzman et al., 2001; BMJ 322:1511–1516., Bertelsmann-Stiftung, Expertenpanel Rückenschmerz 2007, Grunt-Göschl C, Habelsberger W, Schmerznachrichten Nr. 3/12, ISSN 2076-7625
11 Kriz et al., 2008; Schmidt et al., 2003
12 Lohman D et al., BMC Med 2010; 8:8
* Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie, Onkologie und Palliativmedizin