Die multiple Sklerose (MS) ist eine komplexe Erkrankung des Zentralnervensystems, bei der durch das Auftreten fokaler und diffuser Entzündungsprozesse die Myelinscheiden und in der Folge auch die Axone angegriffen werden und zugrunde gehen. Schübe sind dabei meist nur die Spitze des Eisberges. Die langfristigen Auswirkungen dieses chronischen Entzündungsprozesses treten oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten in Form einer zunehmenden Verschlechterung unter anderem der Gehfähigkeit, der Blasenfunktion und der Kognition zutage. Daher ist ein früher Therapiebeginn essenziell für das Hintanhalten eines bleibenden neurologischen Defizits.
Die Genese der MS ist unklar. Bislang sind 233 Risiko-Allele beschrieben, aber das hereditäre Risiko trägt nur etwa zu 25 % zum gesamten MS-Risiko bei. Umweltfaktoren, wie eine durchgemachte Infektion mit dem EBV, Rauchen, Übergewicht in der Adoleszenz und ein niedriger Vitamin-D-Spiegel tragen zu den restlichen 75 % des Risikos bei, aber bislang gibt es keine Vorhersage über das Risiko auf individueller Ebene.
Das Geschlecht beeinflusst die Immunantwort gegenüber körpereigenen Antigenen („sich selbst“) und Fremdantigenen. Frauen entwickeln stärkere Reaktionen der angeborenen und der erworbenen Immunabwehr und leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen. Männer hingegen haben ein höheres Risiko, an Infektionen oder an Krebserkrankungen zu versterben
Östrogene, Progesteron und Androgene üben einen modulierenden Effekt sowohl auf das Immunsystem als auch auf das ZNS aus. Alle Lymphozytensubgruppen weisen Östrogenrezeptoren auf. Hohe Östrogenspiegel ver-schieben die Immunantwort von einer pro-inflammatorischen TH1-Antwort zu einer anti-inflammatorischen TH2-Antwort. Im ZNS führen Östrogene zur Aktivierung neuroprotektiver Faktoren in Astrozyten und in der Mikroglia und damit zur Verbesserung des Überlebens neuraler Strukturen. Progesteron und seine Metaboliten unterstützen die Reifung der Oligodendrozyten und die Myelinisierung. Auch Androgene haben neuroprotektive und antiinflammatorische Effekte. Niedrige Testosteronspiegel bei Männern mit MS sind mit einem höheren Behinderungsgrad und schlechterer kognitiver Leistung assoziiert. Die klinischen Auswirkungen der differenziellen Hormonexpression erfolgen im Zusammenspiel multipler anderer, auch genetischer Faktoren, die nur teilweise bekannt sind.
Weltweit leben etwa 2.8 Millionen Menschen mit MS, 13.000 davon in Österreich. Drei Viertel der Betroffenen sind Frauen – Anteil steigend. Der Einfluss des Geschlechts und der Geschlechtshormone zeigt sich besonders deutlich an der Inzidenz je nach der hormonellen Lebensphase. Während vor der Pubertät und nach der Menopause eine MS-Erstmanifestation bei beiden Geschlechtern gleich häufig ist, nimmt der Anteil an Mädchen und Frauen mit der Pubertät deutlich zu. Eine frühe Menarche ist mit einem früheren Beginn assoziiert.
Der Verlauf der MS ist höchst heterogen – von milden Verläufen mit nur geringer Beeinträchtigung über Jahrzehnte bis zu hochaktiven Verläufen mit früher irreversibler Behinderung. In den meisten Fällen verläuft die MS schubhaft, nur bei etwa 15 % findet sich ein progredienter Verlauf von Beginn an. Diese primär progrediente MS beginnt zumeist erst jenseits des 40. Lebensjahres und kommt bei beiden Geschlechtern gleich häufig vor.
Ein MS-Schub ist durch ein neu aufgetretenes objektivierbares Symptom gekennzeichnet, das mindestens 24 Stunden anhält und nicht durch Fieber oder einen Infekt erklärbar ist. Typische Schubsymptome sind eine Sehnervenentzündung, Augenbewegungsstörungen, Koordinationsstörungen sowie motorische und sensible Symptome im Rahmen einer inkompletten transversen Myelitis.
Schübe sind bei Frauen häufiger und betreffen eher die Sehnerven und das sensible System, während bei Männern Schübe mit motorischen Symptomen häufiger sind. Diese bilden sich auch schwerer zurück. Im MRT kann anhand neuer Läsionen die subklinische Krankheitsaktivität beurteilt werden. Frauen zeigen mehr entzündliche Veränderungen im MRT, während Männer häufiger Läsionen im Kleinhirn und mehr Atrophie, beides prognostisch eher ungünstige Faktoren, aufweisen. Langfristig haben Männer ein höheres Risiko, eine irreversible neurologische Behinderung zu entwickeln. Auf Gruppenniveau sind daher Frauen zwar häufiger von der MS betroffen; Männer, einmal erkrankt, haben aber tendenziell die ungünstigere Prognose.
Der Einfluss der Geschlechtshormone auf den MS-Verlauf wird in der Schwangerschaft besonders deutlich. Die physiologischen Veränderungen der Immuntoleranz während der Schwangerschaft umfassen Östrogene, Progesteron, Prolaktin, Alpha-Fetoprotein und schwangerschaftsspezifische Glykoproteine. Während der Schwangerschaft nimmt das antiinflammatorische (TH2-)Zytokinprofil sowie die Aktivität regulatorischer T-Zellen und antiinflammatorischer Zytokine wie TGF-beta zu und führt mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft zu einem reduzierten Schubrisiko. Nach der Geburt nehmen die immuntoleranten Zytokinausschüttungen wieder ab, und das Schubrisiko steigt. Frauen mit hochaktiver MS sind aber dennoch gefährdet, auch in der Schwangerschaft Schübe zu entwickeln. Bei diesen Frauen muss die medikamentöse Therapie schon vor der Schwangerschaft entsprechend adaptiert werden. Stillen hat einen protektiven Effekt auf die Schubrate, allerdings nur, wenn ausschließlich gestillt und nicht zugefüttert wird.
Der Übergang zur Menopause ist eine kritische Phase im Verlauf der MS bei Frauen. Durch die Abnahme der Östrogen- und DHEA-S-Spiegel nehmen proinflammatorische Prozesse zu und addieren sich zu den altersabhängigen Veränderungen des Immunsystems („Immunoseneszenz“). Die Abnahme von verfügbarem Östrogen kann auch zu einem verminderten Widerstand neuraler Strukturen gegen neurotoxische und neurodegenerative Vorgänge führen und das steigende Progressionsrisiko erklären. Eine Hormonersatztherapie kann die physische Lebensqualität von Frauen mit MS verbessern.
Univ.-Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer Medizinische Universität Wien & lapura, Genderinstitut Gars am Kamp |
Die Geschlechter-Ratio bei Multipler Sklerose ist mit 2–3 : 1 bei Frauen wesentlich höher als bei Männern. Vor dem 20. Lebensjahr beträgt die Ratio sogar 4 : 1. Dies betrifft vor allem die schubförmige MS, während bei der primär progredienten Form der MS das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist. Frauen scheinen öfter von Erwerbsminderung, Frühpensionierung und Altersarmut betroffen zu sein, bei Männern ist die Prognose meist ungünstiger. Die meisten Informationen zu Geschlechterunterschieden bei MS beziehen sich auf Verhütung und Schwangerschaften. Tatsächlich beeinflusst eine Schwangerschaft den MS-Verlauf nicht negativ. Eine frühe Schwangerschaft ist mit einem höheren Alter bei der Diagnose verbunden. Während der Gravidität sinkt die Krankheitsaktivität, postpartal steigt die Schubrate an. Nach der Menopause tritt oft eine Verschlechterung ein, mehr Daten zu den positiven Effekten einer Hormonersatztherapie wären wünschenswert. Neben hormonellen Veränderungen werden auch weitere Faktoren als für das Krankheitsrisiko ursächlich diskutiert. Bei jungen Mädchen könnte Übergewicht das MS-Risiko erhöhen, ebenso wie Rauchen und Alkohol. Ein Bewegungsmangel, eine geringe Sonnenexposition und ein Vitamin-D-Mangel werden auch als mitverantwortliche Faktoren diskutiert. Eine rezente Metaanalyse von Blut- und Gehirnproben zeigte auch Geschlechterunterschiede im Transkriptom, bei einer Reihe von MS-assoziierten Genen sowie auch unterschiedliche Muster in den Reaktionen des Immunsystems.