Je nachdem, mit wem man spricht, erhält man seit Jahren unterschiedliche Einschätzungen darüber, was Primärversorgungseinrichtungen (PVE) eigentlich tun sollen. Das mag wohl auch einer der Gründe dafür sein, warum die Zahl der PVE bisher deutlich hinter den Planungen zurückgeblieben ist: Es weiß niemand so recht, was sie sind. Für die Bundesländer als Spitalsträger ist klar, dass ein Primärversorgungszentrum (PVZ) die Spitalsambulanzen entlasten soll. Für die Sozialversicherung wiederum sollen PVE vor allem niedergelassene Versorgungslücken schließen. So sieht es – wie berichtet – auch das Gesundheitsministerium: Wenn sich für eine Kassenstelle künftig sechs Monate lang keine neuen Ärztinnen und Ärzte finden, soll eine PVE ausgeschrieben werden.
Viele Ärztinnen und Ärzte waren bisher skeptisch und fürchteten, dass eine PVE mit der Autonomie, Unabhängigkeit und Flexibilität einer niedergelassenen Ordination nicht mithalten können. Doch jetzt tut sich zunehmend eine Möglichkeit auf, die bisher fast nur auf dem Papier bestanden hat: Primärversorgungsnetzwerke (PVN) – also niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die ihre Praxen vernetzen, aber autonom bleiben. Wer glaubt, dass diese Möglichkeit vor allem außerhalb der Ballungsräume eine Zukunft hat, irrt. Denn Anfang Mai wurde ein solches PVN in Wien eröffnet – das zweite seiner Art in Wien, die insgesamt elfte PVE der Bundeshauptstadt.
„Es freut mich, dass in Wien nun einmal mehr die Möglichkeit genutzt wird, mehrere Ordinationen unter dem Schirm eines Primärversorgungsnetzwerks zusammenzufassen. Das erlaubt, die bewährten Vorteile einer PVE zu übernehmen – nämlich die Ergänzung des Angebots durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Gesundheitsberufen – und damit eine wohnortnahe moderne Versorgung im niedergelassenen Bereich zu garantieren“, betonte Mario Ferrari, Vorsitzender des Landesstellenausschusses der ÖGK in Wien. „Beim Primärversorgungsnetzwerk Simmering können wir auf zwei bestehende Ordinationen aufbauen, die schon jetzt eine nachhaltige Versorgung für die Bevölkerung bieten. Umso mehr freut es mich, dass diese Einzelordinationen nun eng miteinander kooperieren und ihr Angebot weiter ausbauen, etwa durch die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen“, sagte Erik Randall Huber, Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Wien.
Konkret haben sich die Ordination Dr. Miran Arif unter dem neuen Namen „Doctorum – Zentrum für Allgemeinmedizin“ und die Ordination Dr. Thomas Freyschlag als Netzwerkpartner zusammengeschlossen, um das erweiterte Leistungsspektrum der Primärversorgung in Simmering anbieten zu können. Als dritter Arzt unterstützt Dr. Philipp Sabanas im „Doctorum – Zentrum für Allgemeinmedizin“. Dr. Miran Arif ist zusätzlich Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie. Das Angebot der Allgemeinmedizin wird in der PVE Simmering durch Diätologie, Psychotherapie und Sozialarbeit ergänzt. Zusätzlich gibt es diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte.
Fast zeitgleich wurde zwischen der Ärztekammer Steiermark und dem Dachverband der Sozialversicherungsträger für die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), der Sozialversicherung der Selbstständigen (SVS) und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahn und Bergbau (BVAEB) ein neuer Gesamtvertrag für PVE in der Steiermark abgeschlossen. Und der soll – so hört man – auch eine Blaupause für andere Bundesländer sein. Denn auch hier wurde ein Fokus auf Netzwerke gelegt. Die PVE werden im Rahmen des vereinbarten Stellenplans errichtet, und die Primärversorgungsstandorte sollen aus bestehenden Strukturen entwickelt werden. Das Kernteam einer PVE besteht demnach aus drei Ärztinnen und Ärzten für Allgemeinmedizin (VZÄ) mit zumindest 1 Lehrpraxis-Bewilligung beziehungsweise der Bereitschaft, sie zu beantragen und dauerhaft 1 Lehrpraktikantenstelle anzubieten, zumindest 0,5 diplomierten DGKS/DGKP (VZÄ) und einer Ordinationsassistenz (OA) im erforderlichen Ausmaß. Im erweiterten Team sind zumindest Angehörige dreier nichtärztlicher Gesundheitsberufe vertreten (Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, Logopädinnen und Logopäden, Diätologinnen und Diätologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Hebammen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, klinische Psychologinnen und Psychologen). Orts- und bedarfsabhängig können Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde als Teil des Kernteams in die PVE eingebunden werden.
„Der neue PVE-Rahmenvertrag verbindet das Beste aus allen Welten. Wir haben die Erfahrungen der Pilotphase in der Steiermark aber auch aus anderen Bundesländern einfließen lassen können“, erklärte Prof. Dr. Dietmar Bayer, Vizepräsident und Obmann der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in der Ärztekammer Steiermark. Dr. Alexander Moussa, kassenärztlicher Referent in der Ärztekammer Steiermark, ergänzte: „Wichtig ist, dass Zentren und Netzwerke gleicher-maßen möglich sind.“ Durch die Zusammenarbeit multiprofessioneller Teams hätten Ärzt:innen in PVE mehr Zeit für die Patient:innen, betonten Ing. Josef Harb und Vinzenz Harrer, die Vorsitzenden des ÖGK-Landesstellenausschusses: „Wir stärken damit die Versorgung im niedergelassenen Bereich, Gesundheitsförderung und Prävention werden intensiviert und besonders wichtig: Flexiblere Arbeitszeitmodelle bieten zusätzlichen Anreiz.“Einen ganz anderen Weg geht das bereits bestehende Primärversorgungszentrum St. Pölten. Es ist künftig auch an den Wochenenden besetzt. Und das das ganze Jahr hindurch. „Nur Jammern hilft nicht, man muss auch etwas tun. Wir wollen eine Vorreiterrolle einnehmen und zeigen, dass es auch so funktioniert“, sagt Dr. Rafael Pichler, Allgemeinmediziner und einer von vier Gesellschafterinnen und Gesellschaftern des PVZ St. Pölten, im Ärzte Krone-Gespräch. Um die Dienste besetzen zu können, wurde in den vergangenen Wochen und Monaten ein Vertreterpool aufgebaut. Am Wochenende können alle, die wollen, von 8 bis 14 Uhr Bereitschaftsdienst machen. Zusätzlich zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern müssen zwei Ärztinnen und Ärzte anwesend sein. „Was für uns ganz wichtig war, ist die Unterscheidung zwischen Bereitschaftsdienst am Wochenende und den regulären Öffnungszeiten unter der Woche. Bereitschaftsdienst bedeutet, dass niemand der Gesellschafterinnen und Gesellschafter da sein muss“, erklärt Pichler. Gemeinsam mit den rund 12 Vertretungen werden die Dienste nun aufgeteilt. Bereits im Juli 2022 startete das PVZ ein Pilotprojekt, und zeitliche Flexibilität ist dabei laut Pichler ein großer Vorteil. Kann eine Ärztin oder ein Arzt oder sonst jemand aus dem Team etwa wegen der Kinderbetreuung nur zwei, drei Stunden am Vormittag arbeiten, wird darauf Rücksicht genommen. Außerdem seien die Wochenenddienste gut bezahlt, und man könne eine bereits vorhandene Infrastruktur bieten. „Ich glaube, dass wir mit diesem System, das die Infrastruktur zur Verfügung stellt, mehr Ärztinnen und Ärzte ansprechen“, meint der Allgemeinmediziner. Es bestünde außerdem die Möglichkeit, dass Kolleginnen und Kollegen, die das Projekt von Anfang an mitbegleiten, irgendwann als Gesellschafterinnen und Gesellschafter einsteigen.