Dieses neue Konsensuspapier der WONCA Europe und ihrer Netzwerk-organisationen definiert sowohl die Disziplin der Allgemeinmedizin/Familienmedizin als auch die beruflichen Aufgaben der hausärztlichen Primärversorgung.
Es beschreibt die Kernkompetenzen, die von Hausärzt:innen verlangt werden, die wesentlichen Elemente der akademischen Disziplin und bietet eine maßgebliche Ansicht darüber, was Hausärzt:innen in Europa an Leistungen für Patient:innen erbringen sollten, damit deren Versorgung von höchster Qualität und gleichzeitig kosteneffizient ist. Aus dieser Definition der Allgemeinmedizin lassen sich Agenden für Ausbildung, Forschung und Qualitätssicherung ableiten, um sicherzustellen, dass sich die Hausarztmedizin so entwickelt, dass sie dem Gesundheitsversorgungsbedarf der Bevölkerung im 21. Jahrhundert auch gerecht wird.
So werden auch die Charakteristiken des Faches in der WONCA-Definition beschrieben:
„Das Fach Allgemeinmedizin zeichnet sich dadurch aus, dass es
Diese 12 Charakteristiken beziehen sich auf die Fähigkeiten, die alle Fachärzt:innen für Allgemein- und Familienmedizin beherrschen sollten. Sie lassen sich unter 6 wesentlichen Kernkompetenzen bündeln:
Mit der zu den oberen Punkten hinzugekommenen Basis – „One Health, Planetary Health and Sustainability“ wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Allgemein- und Familienmediziner:innen mit ihrer Arbeit und ihrem Wirken Einfluss auf die unmittelbare Umgebung, die Gemeinschaft und die Gesellschaft haben und damit in einer Verantwortungsrolle sind – dies aufgrund all der Facetten des Berufes, die das Fach im Vergleich zu anderen Fächern einzigartig machen und gleichzeitig Herausforderung sind – insbesondere in der Lehre, da es nicht immer einfach ist, all diese Dimensionen, die auch im „WONCA Tree“ dargestellt werden, explizit zu benennen, geschweige denn „frontal“ zu unterrichten.
Gerade deshalb setzt sich im internationalen Bereich die akademische Lehre für Allgemeinmedizin stark mit den angewandten Lehrmethoden des Erwachsenenlernens und deren Möglichkeiten im medizinischen Kontext auseinander. Hauptfrage ist und bleibt, wie all diese Dimensionen, alle Kernkompetenzen, die notwendige berufliche Grundhaltung dazu und alle weiteren berufsnotwendigen Fertigkeiten begleitend gelehrt werden können. Konsensus ist hierbei, dass nirgendwo sonst als im zukünftigen Berufs- und Arbeitsumfeld diese Dimensionen besser zu lernen sind. Es wird als selbstverständlich gesehen, dass manche klinischen Skills und Fertigkeiten aufgrund höherer Fallzahlen oder besserer struktureller Möglichkeiten im Krankenhaus gelehrt werden können. Genauso wird es aber als selbstverständlich gesehen, dass unsere ureigenen Fachkompetenzen in ihrer Gesamtheit im Krankenhaus NICHT ausreichend vermittelt werden können. Als solches wird die Krankenhausausbildung immer als Ergänzung und NICHT als Ersatz für die allgemeinmedizinische Ausbildung in der Niederlassung gesehen. Bereits in der WONCA-Definition findet sich mit dem Hinweis auf die Terminologie von Miller ein erster Ansatz für die allgemeinmedizinische Lehre – der Erwerb der (theoretischen) Kompetenz bedeutet noch nicht, dass die Kompetenzen im Alltag auch umgesetzt werden bzw. sich umsetzen lassen. Die Fähigkeit von einer Person, Gelerntes (Knows) anzuwenden (Knows how) oder diese Fähigkeiten auch (z. B. in einer Prüfungssituation) vorzuzeigen (Shows how) sind getrennt von der täglichen Umsetzung und Leistung im Praxisalltag zu sehen (Does). Das Erreichen dieser letzten Ebene ist in hohem Maße von den bestehenden Bedingungen, Anforderungen, finanziellen wie strukturellen Möglichkeiten und von der Unterstützung des Lernenden abhängig, zusätzlich aber von den wesentlichen Merkmalen der Ärzt:innen: Haltung, Eigenschaften und Interaktionen mit dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft, in der sie arbeiten. Die Wechselbeziehungen all dieser Dimensionen beeinflussen letzten Endes diese Kompetenzebene. Konsens ist hier im Bereich der Lehre auch, dass nicht alle aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer individuellen Interessen, Stärken und Schwächen in sämtlichen Aspekten und Kompetenzen des Berufes sofort kompetent, geschweige denn „Fachleute“ oder gar Expert:innen sein können oder werden. Einzelne Dimensionen und Kompetenzen sowie Skills und Wissen werden schneller, andere langsamer erreicht. Ziel der Lehre in der Allgemeinmedizin muss es also sein – so der Grundtenor des Kongresses – die Weiterentwicklung zu Expert:innen in einzelnen Bereichen zu fördern und zu motivieren, ohne aber andere Kompetenzen, notwendiges Wissen, Berufshaltungen und Skills (Knowledge, Skills and Attitudes) zu vernachlässigen – denn nur, wenn die Kompetenzen aller sechs Kernbereiche zumindest in die Umsetzungsebene gelangen, wofür wiederum auch ausreichend Wissen, eine berufliche Haltung und spezifische Fertigkeiten notwendig sind (Does), sind die Allgemein- und Familienmediziner:innen in der Lage, tatsächlich auf jede Fragestellung zu reagieren bzw. in diesem komplexen Beruf eine gute Versorgungsqualität zu erbringen.
Die internationale Lehre in der Allgemeinmedizin wird derzeit von diesen wesentlichen Begriffen geprägt. Die Trennung dieser drei Begriffe gelingt nicht immer, oft sind sie einander ergänzend oder aufgrund ihres Charakters fließend wahrzunehmen. Wichtig ist jedoch auch das Bewusstwerden dieser Begriffe: EPA (Entrustable Professional Activities) sind eigentlich Einheiten einzelner oder mehrerer notwendiger Tätigkeiten/Aktivitäten, die zur Erfüllung der Arbeit notwendig sind und nach ausreichender Überprüfung durch das Vorhandensein der erforderlichen Kompetenz selbstständig durchgeführt werden können. Kompetenzen sind jedoch die Eigenschaften von Menschen (Fähigkeiten und Fertigkeiten), die sie zur Umsetzung der Tätigkeiten benötigen. Das Erreichen der Selbstständigkeit in den EPA ermöglicht jedoch indirekt die Evaluation, ob eine ausreichende Kompetenz, also die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vorhanden sind. Selbst international beruht die Wissensweitergabe an den Universitäten oft noch auf eher traditionellen Lehrmethoden, die erst in den letzten Jahren zunehmend modernisiert wurden. In der postpromotionellen Ausbildung für Allgemein- und Familienmedizin sind in Europa die Lehrmethoden mit zunehmend großen Anteilen den Grundsätzen der Erwachsenenbildung bzw. dem Erwachsenenlernen zuzuordnen. Gerade im Bereich des Erwachsenenlernens ist es aber eine Herausforderung, die richtigen Werkzeuge zur Überprüfung der Kompetenzen und auch EPA zu finden, vor allem, da Grundprinzipien des Erwachsenenlernens berücksichtigen, dass Erwachsene an vorhandenes Wissen anknüpfen, ihre eigene Lebenserfahrung mit dazu verwenden, das Lernen zu erleichtern, viel mehr Priorität auf Selbststeuerung und Motivation legen und wählen wollen, wie sie lernen.
Vor allem in den Ländern, in denen die allgemeinmedizinische Lehre auch postpromotionell an die Universitäten weiterhin angeknüpft ist (Niederlande, Belgien, England, Irland u. ä.), setzt man sich stark mit modernen Ansätzen des Erwachsenenlernens auseinander. Ein wesentlicher Teil davon ist das Self-regulated Learning. Es ist die Selbstregulierung von Lernenden zum Erreichen ihrer (Aus-)Bildungsziele – dafür benötigt es strategisches Handeln (Handlungsplanung und -umsetzung, Überwachung und Bewertung/Feedback anhand eines Standards und Kenntnis über den persönlichen Fortschritt) und das Nachdenken über Möglichkeiten der weiteren Selbstverbesserung (Metakognition). Ziel des selbstregulierten Lernens ist es, dass sich die Lernenden ihrer Stärken und Schwächen bewusst sind, Möglichkeiten und Werkzeuge lernen, diese auszugleichen und sich auch in ihren Stärken weiter zu verbessern.
Nimmt man die Tatsache, dass das Lernen im eigenen späteren Berufsfeld am effektivsten ist und dass effektives Lernen im Erwachsenenalter am besten funktioniert, wenn die Lernenden aktiv am Lernen beteiligt sind, ergibt sich für die postpromotionelle Lehre in der Allgemeinmedizin die Herausforderung, einerseits Ausbildungsstätten mit hoher Ausbildungsqualität zu bieten, andererseits den Lernenden eine unmittelbare Wahrnehmung ihres Lernfortschrittes in diesem Umfeld zu ermöglichen – beides mit dem Ziel, am Ende entsprechend kompetente Ärzt:innen zu erhalten, die auch weiterhin eine qualitätsvolle Primärversorgung (und Ausbildung für die nächste Generation) bieten. Im Verständnis vor allem dieser weit entwickelten Länder bedeutet dies, eine verbesserte Kultur der Weiterbildung zu entwickeln. Teil davon ist selbstverständlich auch eine unmittelbare Möglichkeit des Feedbacks der Lernenden zur Qualität ihres Lernumfeldes. Vorteilhaft ist hier die technische Weiterentwicklung in den letzten Jahren – die Entwicklung und Nutzung von Apps spielen hier zunehmend eine Rolle –, denn diese bieten einfache Möglichkeiten, zeitnah und unmittelbar zu dokumentieren, zu evaluieren und Feedback zu geben.
Ein Beispiel dafür war z. B. die Präsentation und die Diskussion um das Workplace-based Assessment des Irish General Practitioner Training Programme (ICGP). Dort geht die postgraduelle Ausbildung immer mehr in die Richtung der kompetenzbasierten Ausbildung mit Programmatic Assessment (PA) als kontinuierlichem Assessment mit holistischem Ansatz über die gesamte Ausbildungsdauer hinweg. Um dies zu ermöglichen, wurde eine Software entwickelt, die den Lernenden die Möglichkeit gibt, alle Stationen ihrer Ausbildung, sämtliche im Lernzielkatalog befindliche EPA (und damit verbundene Kompetenzen) unmittelbar nach Absolvierung in eine App (ähnlich einem Logbuch) einzutragen. Die Rückmeldungen von den Lehrenden zu diesen Tätigkeiten sowie deren Feedback über das erreichte Kompetenzlevel und die selbst wahrgenommene Kompetenz werden eingetragen (und hier kann die Selbstwahrnehmung abweichend von jener der Lehrenden sein). Durch die zunehmende Zahl der Einträge zu den einzelnen EPA-Blöcken ergibt sich eine Lernkurve bis hin zur (durch die Lehrenden auch bestätigten) Selbstständigkeit in den durchzuführenden EPA und zum damit verbundenen Kompetenzerwerb.
Ein Dilemma bleibt jedoch für manche Lehrinhalte: Was tun mit den Kernpunkten der Ausbildung, die zwar reflektiert und analysiert, aber sehr schwer explizit gelehrt werden können?
Hat das Lernen von Rollenvorbildern in der modernen Lehre noch Platz? Diese Frage an Prof. Dr. Igor Svab aus Slowenien am Ende seiner Keynote gestellt, führte zu folgender Antwort: „Das Lernen anhand von Rollenvorbildern ist eine der ältesten Lehrmethoden der Welt. Das gab es schon immer, alles andere kam danach. Mein Leben, mein Lebensstil und meine Karriere wurden in einer anderen Zeit geprägt und sind aus einer anderen Perspektive heraus entstanden. Junge Menschen müssen ihre eigene Rolle und ihren eigenen Lebensstil entwickeln, basierend auf der Situation, die sie erleben. Und es ist absolut logisch und normal, dass sie nicht mit dem einverstanden sind, was sie bei uns sehen und erleben, wenn wir ihre Rollenbilder sind. Das ist absolut exzellent und absolut in Ordnung, denn wenn es nicht so wäre, gäbe es keine Verbesserung, und wir würden immer das Gleiche tun und uns nicht weiterentwickeln. Role Modelling ist also einfach eine dieser vielen Lehrmethoden, und die junge Generation lernt anhand von Rollenvorbildern und deren Evaluation im Kontext ihrer eigenen Zeit. Und dadurch entwickelt sich ihre eigene Rolle.“
Konsens in einigen Beiträgen des Kongresses war: Obwohl es schon eine sehr alte Lehrtradition ist, können über das Rollen(vor)bild in der täglichen Praxis des zukünftigen Berufes (und nur da – aber unbedingt damit verbunden auch die entsprechende Reflexion über das Erlebte und Gesehene) wichtige Fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt werden, die letzten Endes zum eigenen Kompetenzerwerb führen. Dazu zählen Empathie und Professionalität, das Erlernen von Kommunikationstechniken und der Umgang mit schwierigen Situationen und herausfordernden Konsultationen, der Umgang mit Unsicherheit, der Umgang mit Emotionen, die Erzeugung von Resilienz, aber auch viel banalere Dinge wie Ideen zu Management und Strukturverbesserungen für den eigenen beruflichen Alltag.