Neue Wege in der Suchtdiagnostik

Inhomogenitätsproblem

Eine kategoriale Diagnostik, wie die psychiatrische eine ist, stelle generell ein Problem dar, da hier Gruppierungen geschaffen werden, die die Natur nur unzureichend abbilden. Der einzige Gewinn sei, dass Gegenstände reliabel bezeichnet werden können und somit eine Verständigung möglich ist. „Aber das ist zu wenig, denn wir bräuchten eine Anleitung für eine differenzielle Betrachtung unserer Behandlungsangebote“, erklärte Prim. Univ.-Prof Dr. Michael Musalek, Ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts Wien.

Die Diagnose von Suchterkrankungen beruht auf klinischen Parametern, da anhand von Laborparametern oder bildgebenden Verfahren eine sichere Diagnosestellung nicht möglich ist und auch keine psychologischen Testverfahren, sondern nur Fragebögen, die die Anamnese und den psychopathologischen Status erheben, zur Verfügung stehen. Nach ICD-10 kann ein Abhängigkeitssyndrom – unabhängig von der konsumierten Substanz – diagnostiziert werden, wenn drei der sechs Kriterien zutreffen:

  • Craving,
  • Kontrollverlust,
  • körperliches Entzugssyndrom,
  • Toleranzentwicklung,
  • fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen,
  • anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises schädlicher Folgen.

„Durch diese Kriterien bekommt man jedoch extrem inhomogene Gruppierungen, denn ein Patient mit Kontrollverlust, Vernachlässigung anderer Interessen und anhaltendem Konsum trotz schädigender Folgen unterscheidet sich deutlich von einem anderen, der neben Kontrollverlust ein Entzugssyndrom und Toleranzent­wicklung aufweist und auch andere Behandlungsschwerpunkte braucht.“

Um homogenere Patientengruppen zu schaffen, die eine differenziertere Behandlung ermöglichen sollten, wurden ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verschiedene Typologien entwickelt. Da aber auch bei diesen Typologien nur ein kleiner Teil einem reinen Typus zugeordnet werden konnte und die Mischtypen überwogen, rückte man Mitte der 1990er Jahre wieder davon ab.

Kontinuumsproblem

Neben diesem Inhomogenitätsproblem gäbe es auch ein Kontinuumsproblem, da zwischen Alkoholkonsum, problematischem Gebrauch und Abhängigkeit ein Kontinuum besteht und die Grenzen, wo die Sucht beginnt, letztlich künstlich gezogen wurden. „Und bei diesen Grenzen überlegen wir, welche pathogenetischen Faktoren eine Rolle spielen, dass sich aus einem problematischen Gebrauch eine Sucht entwickelt.“

Äußerst problematisch sei weiters, dass es sich bis dato um eine Spätdiagnostik handelt, die mit einer ungünstigeren Prognose verbunden ist. Durch die Revision des amerikanischen Diagnosesystems DSM werde aber nun der jahrzehntelangen Forderung im Suchtbereich nach einer Frühdiagnostik Rechnung getragen.

„Im DSM-V wird das, was früher als (hoch)problematischer Konsum bezeichnet wurde, als Frühstadium der Alkoholkrankheit gelten.“ Das, so Musalek, „revolutioniere“ auch die Behandlung. „Wir werden uns nicht mehr nur mit den pathogenetischen Faktoren der Spätstadien, sondern auch der Frühstadien auseinandersetzen müssen, in denen noch andere Therapieziele wie moderater oder kontrollierter Konsum möglich sind als in den Spätstadien. Bei schwerer psychischer oder körperlicher Abhängigkeit gibt es ja nur die Abstinenz. Außerdem werden wir uns mit den Übergängen, wie kommt es im diagnostisch-therapeutischen Prozess dazu, das – ein Patient vom Früh- ins Spätstadium übergeht? – beschäftigen müssen. Und wir haben die Möglichkeit, medizinische, psychologische und psychotherapeutische Hilfestellungen anzubieten, weil es sich um eine anerkannte Diagnose handelt.“
Das, so Musalek, sei die Perspektive für die nächsten fünf Jahre weltweit, da das DSM-V, das im Mai publiziert werden soll, seinen Niederschlag auch im ICD-11 finden werde.

Ebenso werde es für jene Patienten in sehr späten Stadien, die es nicht schaffen, die Abstinenz einzuhalten, Reduktionsprogramme geben. Eine Substanz, mit deren Hilfe die Trinkmenge reduziert werden kann, wird bald zur Verfügung stehen. „Alkohol ist eine massiv gesundheitsschädliche Substanz und eine Alkoholreduktion daher von enormer Wichtigkeit. Insgesamt brauchen wir nicht nur differenzierte diagnostische, sondern vor allem auch differenzierte therapeutische Ansätze.“

Komorbiditätsproblem

Ein weiteres Problem sei die Frage der Komorbidiät, denn psychische Erkrankungen treten überaus häufig vergesellschaftet mit Suchterkrankungen auf. So zeigte beispielsweise eine Untersuchung des API 2005, dass 36% der Patienten mit Alkoholabhängigkeit auch eine Depression, 25% eine generalisierte Angststörung, 20% eine Panikstörung und 15% eine posttraumatische Belastungsstörung hatten. Bipolare Störungen sind ebenfalls häufig, und insbesondere während hypomaner Phasen kommt es aufgrund des verminderten Risikobewusstseins vermehrt zu Rückfällen.
Diese hohe Komorbidität findet sich nicht nur bei Substanzabhängigkeit, sondern auch bei Verhaltenssüchten. So haben ca. 50% der pathologischen Spieler auch eine affektive Störung. Die extrem hohe Varianz der Komobiditätsraten in der Literatur, die beispielsweise bei Angststörungen bei Alkoholabhängigkeit zwischen 1–69% liegt (Tab.), sei auf verschiedene methodische Faktoren zurückzuführen, wie z.B. welche Patientengruppe in der jeweiligen Studie untersucht wurde, da die Ergebnisse etwa bei einem stationären oder ambulanten Sample unterschiedlich sein werden. Angesichts dieser Komorbiditätsraten, so Musalek, müsse man sich fragen, ob es sich überhaupt um Komorbiditäten handelt? „Ist es wirklich so, dass die Suchterkrankung die primäre Erkrankung ist und die anderen psychischen Störungen Folgeerscheinungen? Aus statistischer Sicht spricht eigentlich nichts dafür. Wenn die Wahrscheinlichkeit höher ist, zwei Erkrankungen zu haben als eine, müssen wir uns diagnostisch etwas neu überlegen.“

 

 

In diesem Zusammenhang stelle sich z.B. die Frage, ist Alkoholkrankheit Ursache der Depression oder umgekehrt? Alkohol wirkt in höheren Dosierungen und chronisch eingenommen depressiogen. Andererseits ist Alkohol sehr gut anxiolytisch wirksam und wird daher auch oft gegen Spannungszustände und Angst eingesetzt, was den Allgemeinzustand verschlechtert und zu Depressionen führt. Da Depressive auch banale Situationen als belastend erleben, wird gegen diese Spannungszustände Alkohol getrunken, was wiederum die Depression verstärkt. „Hier kann man nicht mehr sagen, was zuerst war, die Angststörung, der Alkohol oder die Depression, weil alle diese Faktoren sich in einem Kreisprozess, der durch das soziale Umfeld noch verschlechtert wird, verstärken. Auch therapeutisch bringt uns die Frage, was zuerst war, nicht weiter, da in der Behandlung an all diesen Eckpunkten angesetzt werden muss.“ Zentraler Faktor in diesen Kreisprozessen sei die Veränderung des Allgemeinzustandes. Wenn sich dieser z.B. im Rahmen einer Depression verschlechtere, werde sich auch der problematische Konsum erhöhen, der dann schließlich nicht mehr kontrolliert werden könne (Abb.). „Das bedeutet, dass das zentrale Phänomen des Kontrollverlustes nicht Teil der Suchterkrankung ist, sondern durch die andern Störungen – Depression oder Angststörung etc. – provoziert und gesteuert wird.“ Für Musalek ein Hinweis, dass es sich bei Suchterkrankungen nicht um eine primäre Störung, sondern um eine Komorbidität handle.

 

 

Mehrdimensionale Diagnostik

Versteht man Krankheit als „kybernetisch gesteuerte Kreislaufprozesse“ (Schipperges), so der Experte weiter, gehe es im diagnostischen Prozess darum, die Mechanismen aufzuzeigen, die krankheitserhaltend wirksam werden und die im interaktionellen Raum liegen. „Wenn man Suchtkrankheiten so sieht, greift eine rein kategoriale Diagnostik zu kurz.“ Als Antwort darauf wurde eine mehrdimensionale Diagnostik entwickelt, bei der die Einzelphänomen wieder ins Blickfeld gerückt werden und bei der pathogenese- und vor allem auch prozessorientiert diagnostiziert wird. „Gleichzeitig muss man versuchen zu verstehen, was diese Erkrankung für den Patienten bedeutet, und seine Ressourcen berücksichtigen.“

 

Quelle: API-Kongress „Psychische Erkrankungen von Suchtkranken“, 25. bis 26. 1. 2013, Wien

Paradigmenwechsel im Umgang mit der Alkoholproblematik

Im Rahmen des API-Kongresses setzte sich eine Podiumsdiskussion des Vereins „Alkohol ohne Schatten“ mit dem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Alkoholproblematik auseinander. Aus psychiatrischer Sicht erörterten Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Haring, Hall, und Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Wien, den Umdenkprozess bei den Therapiezielen und die Implikationen für die Behandlung. Galt früher die absolute Alkoholabstinenz als einziges Therapieziel und ein Rückfall als Scheitern, wird heute zunehmend eine Reduktion des Alkoholkonsums für jene Menschen als mögliches Teilbehandlungsziel gesehen, die noch keine schwere psychische und körperliche Abhängigkeit aufweisen. Dr. Barbara Degn wies aus Sicht der Allgemeinmedizinerin auf Engpässe in der Versorgung alkoholkranker Menschen hin. Die ethische Perspektive bzw. die Sicht des Kommunikationsfachmanns wurde von Dr. Andreas Klein, Wien, und Mag. Wolfgang Maierhofer, Wien, vertreten.
Der Verein „Alkohol ohne Schatten“ will dazu beitragen, Maßnahmen zu entwickeln, die Menschen dabei unterstützen, einen genussvollen, nicht selbstschädigenden Umgang mit Alkohol zu erlernen. Außerdem setzt er sich für eine Verbesserung der Versorgungsstruktur zur Früherkennung ein.