ÖGPAM„Philosophische Wanderung“ im Oktober im Salzkammergut

Mittlerweile ist es schon eine sehr geliebte Tradition: Wie schon dreimal zuvor hat die ÖGPAM zu einer „Philosophischen Wanderung“ eingeladen.

3. Reihe v. l. n. r.: Tobias Schöberl, Wolfgang Doringer, Benedikt Hofbauer 2. Reihe v. l. n. r.: Barbara Hasiba, Elke Haider, Ursula Doringer, Andrea Bitschnau-Friedl, Helmut Bitschnau, Barbara Degn, Karoline Schwaiger, Christa Glehr, Johanna Leitner, Elisabeth Wejbora, Irene Übelhör, Sylvia Nesterski 1. Reihe v. l. n. r.: Reingard Glehr mit Florentina, Susanne Felgel-Farnholz, Agnes Wagner, Stefan Wagner, Thomas Jungblut, Helga Mezgloch, Herbert Bachler, Reinhold Glehr; © ÖGPAM

Wir trafen uns diesmal in Ebensee, nach der Bergfahrt auf den Feuerkogel machten wir uns auf den Weg zum sog. Europakreuz. Das Wetter war angenehm, der Wind hat uns zwar etwas zerzaust, aber das hat die Laune nicht getrübt. Und wie schon früher haben einige ÖGPAM-Mitglieder für die Pausen ihre Gedanken zum Thema „Beziehungen am Puls der Zeit“ zusammengefasst. Eine gekürzte Form soll hier wiedergegeben werden.

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Den Anfang machten Susanne Felgel-Farnholz und Andrea Bitschnau-Friedl mit der Gegenüberstellung von virtuellen und realen Beziehungen.
Die Verschmelzung von realer (tatsächlich vorhandener) und virtueller (nur echt erscheinender) Welt wird als „virtuelle Realität“ bezeichnet. Was ist nun eine virtuelle Beziehung zu einem virtuellen Wesen? Bei dieser Form der „Beziehung“ wird eine eigene Welt durch den Computer und seinen Algorithmus geschaffen. Die User:innen an den Geräten bauen emotionale Bindungen zu künstlichen Figuren auf und erleben Beziehung in einer virtuellen Welt. Die extreme Ausprägung ist, wenn ein:e User:in in eine Beziehung mit einem Liebesavatar gerät, sich schlichtweg in ihn verliebt.

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In Japan, wo Leistungsdruck, Zeitmangel und erzwungene Wohnsituationen verbreitet sind, ist die Entwicklung von romantischen und erotischen Virtual-Reality-Spielen besonders ausgeprägt. Avatare werden nach den eigenen Wunschvorstellungen gestaltet, widersprechen nicht, sehen nur die (von ihm/ihr selbst preisgegebenen) guten Eigenschaften vom/von der Spieler:in.

Martin Buber schrieb: Am Anfang ist Beziehung, der Mensch wird am Du zum Ich.“ Wie soll sich das Ich entwickeln, wenn das Du nur aus Netzimpulsen besteht, also sphärisch ist?

Als „analoge Gegenüberstellung“ wurde von Andrea Bitschnau-Friedl die lebenslange enge Beziehung von Clara Schumann und Johannes Brahms geschildert. Der junge Brahms unterstützte Clara Schumann tatkräftig, als ihr Ehemann in eine Nervenheilanstalt ging und von dort bis zu seinem Tod nicht mehr entlassen wurde. Sie teilten Sorgen, tauschten sich künstlerisch aus, unterstützten einander bei Krankheit, er half ihr mit den acht Kindern. Sie war die gefragteste Pianistin Europas zu ihrer Zeit. Es muss einen umfangreichen Briefwechsel gegeben haben, der aber auf Claras Wunsch vernichtet wurde. Die Nachwelt wurde im Unklaren gelassen, ob sie auch tatsächlich eine Liebesbeziehung hatten. Und wie wird eine gelebte Beziehung definiert? Brahms blieb zeitlebens unverheiratet, und auch Clara Schumann blieb Witwe.

Elisabeth Wejbora und Johanna Leitner haben uns zum Thema digitalisierte Betreuung überrascht. Sie sprachen sehr klug über Vor- und Nachteile von digitalisierter Kinderbetreuung – um uns dann zu sagen, dass dieser Text von ChatGPT verfasst worden ist. Die gestellte Aufgabe war: Schreibe eine Erörterung zum Thema „digitalisierte Kinderbetreuung“ mit 500 Wörtern.

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ChatGPT hielt den Rekord als die am schnellsten wachsende Internetanwendung. Als ChatGPT im November 2022 kostenfrei zugänglich wurde, meldete sich innerhalb von fünf Tagen eine Million Nutzer:innen an. Zwei Monate später erreichte ChatGPT 100 Millionen Nutzer:innen. In den Medien wird seither Nutzen und Schaden intensiv diskutiert. Blitzschnelle Übersetzungsprogramme sind Routineanwendungen geworden. In Schweden hat man allerdings nach einem Lesekompetenztest in den Volksschulen die Digitalisierung wieder zurückgefahren. Das angesehene Karolinska-Institut hat dazu die nötigen Daten erhoben und empfohlen, wieder mehr analog zu unterrichten.
Es blieb reichlich Gesprächsstoff am weiteren Weg über den Feuerkogel.

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Reinhold Glehr hat sich über den Posthumanismus Gedanken gemacht. Er definierte die humanistische Perspektive (Mensch als einzigartiges biologisches Wesen mit körperlichen und kognitiven Grenzen und den Grundidealen Vernunft, Autonomie und Moral) und die posthumanistische Perspektive (Mensch durch Technologie weiterentwickelbar, Einbeziehung von virtueller, digitaler Welt und die Aufgabe, Vernunft, Autonomie und moralische Verantwortung zu sichern). Welche Fragen ergeben sich aus dieser Entwicklung von Humanismus zu Posthumanismus? Welche Abhängigkeiten entstehen? Zahlreiche Grundbedürfnisse des Alltags können nur mehr durch das Vorhandensein von Elektrizität befriedigt werden (Wasser, Kochen, IT, Verwaltung etc.). Das biologische Leben hängt an Herzschrittmachern und Prothesen. KI analysiert Röntgenbilder oder EKGs schneller als Ärzt:innen.

Einige uralte menschliche Sehnsüchte fördern die Entwicklung zum posthumanen Wesen. Aber ist eine Überwindung menschlicher Schwächen durch eine großartige virtuelle Identität wirklich wünschenswert? Kann die körperliche Identität durch vorteilhafte Selfies zurechtgerückt oder mittels Chirurgie wunschgemäß verändert werden? Durch künstliche Intelligenz können die Grenzen der menschlichen Intelligenz erweitert werden, Gehirn-Computer-Schnittstellen sind schon angedacht.

Was soll uns bei dieser Transformation Sorgen machen? Realitätsentfremdung durch Technik, Dissoziation durch mehrere Identitäten, sozialer Rückzug in eine virtuelle Welt, fehlende soziale Verantwortung für die neuen Technologien, Verlust der Möglichkeit der Teilhabe gewisser sozialer Schichten am täglichen Leben und last but not least die Gefahr durch Manipulation und fehlende Kontrolle.

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Herbert Bachler setzte das Thema fort. Viele Jahrhunderte war es Ziel von Persönlichkeiten aus Kunst, Religion, Philosophie, Pädagogik und Aufklärung, den Menschen zu „verbessern“. Ewiges Leben und perfektionierte Körper sind uralte Sehnsüchte. Aber führt die Entwicklung nicht zu einer Dehumanisierung? Die posthumane Situation vollzieht sich nicht in einem Vakuum, sondern in einer globalisierten Welt, die dahin tendiert, zutiefst inhuman zu sein, mit strukturellen Ungerechtigkeiten wie wachsende Armut und Verschuldung ebenso wie Vertreibungen aus Häusern und Ländern – mit der Folge, dass die Flüchtlings- und Obdachlosenzahlen steigen. Die Auswirkungen menschlichen Tuns auf das Ökosystem als Folge des Abwendens vom Humanismus?

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Zuletzt referierte Barbara Hasiba zum Thema „Wem oder worauf vertrauen wir?“ mit dem Fokus auf Vertrauen in KI.
(Ur-)Vertrauen bildet sich in früher Kindheit und wird durch Erfahrungen im Laufe des Lebens weiterentwickelt. Vertrauen müssen wir, wenn wir etwas nicht genau wissen, es wird zur Reduktion von Komplexität gebraucht. Wer Vertrauen schenkt, erwartet, dass die andere Partei dieses nicht ausnützt, es impliziert, sich auf das Gegenüber einzulassen. Wer vertraut, geht also ein Risiko ein.

„Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird.“

Khalil Gibran

Im ärztlichen Setting spielt Vertrauen eine große Rolle: Patient:innen vertrauen in die ärztliche Kompetenz, Ärzt:innen vertrauen in die Kooperation ihrer Patient:innen, beide vertrauen in Technik, Laborergebnisse usw. KI ist ein stark wachsender Teilbereich der Medizin. KI unterstützt Ärzt:innen bei vielen Entscheidungsprozessen wie z. B. der Melanomfrüherkennung. Kritisch zu bewerten ist aber oftmals die fehlende Genauigkeit und Erklärbarkeit von digitalen Ergebnissen. KI kann falsche Fährten legen, aber auch Anregung für die eigene Kreativität sein. Die Interaktion zwischen Ärzt:innen und Patient:innen bei der Diagnosefindung und Wahl der Behandlungsmethode, getragen von gegenseitigem Vertrauen, ist von zentraler Bedeutung und kann durch künstliche Intelligenz nicht ersetzt werden. Ein gewisses Maß an Unsicherheit bleibt auch in der Medizin, Sicherheit ist eine Utopie. Bei der Akzeptanz der Unsicherheit ist Vertrauen ein wichtiges Element.