Bund, Bundesländer und Hauptverband der Sozialversicherungsträger haben im Rahmen der Gesundheitsreform 2013 im Bundes-Zielsteuerungsvertrag als eines der Ziele beschlossen: „Multiprofessionelle und interdisziplinäre Primärversorgung (Primary Health Care) bis Mitte 2014 konzipieren und in der Folge Primärversorgungsmodelle auf Landesebene bis 2016 umsetzen. (…) Vorerst bis Ende 2016 mindestens 1% der Bevölkerung pro Bundesland (das entspricht österreichweit mindestens 80.000 Personen).“
Doch ganz so einfach ist es nicht. Das zeigt eine Aufstellung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger mit Stichtag 11. 6. 2015.
Gegenüber der Ärzte Krone fasste Wiens Gesundheitsstadträtin Mag. Sonja Wehsely die Zielsetzungen der PHC-Zentren so zusammen: „Das Primärversorgungszentrum ist eine wichtige Ergänzung zu den bestehenden medizinischen Einrichtungen im innerstädtischen Bereich. Gerade Berufstätige werden von den erweiterten Öffnungszeiten profitieren. Der zweite Standort wird gegenüber vom Donauspital (SMZ Ost; Anm.) eröffnen, hier werden wir dann ganz genau sehen, ob es zu einer Entlastung der Spitalsambulanzen kommt, wenn die Patienten nur über die Straße gehen müssen, um rascher behandelt zu werden.“
Die Anforderungen für das PHC-Zentrum in Wien-Donaustadt sind strikt. Es sind nur Teambewerbungen von drei Ärzten möglich. „Ort: Wien 1220 im Umkreis von 170 Metern des Haupteingangs SMZ Ost“ (als genaue Lokalisation dient die äußere Schiebetür) – Bedingung: barrierefreie Erreichbarkeit. …“, lautet die Kurzfassung der Ausschreibung bei der Wiener Ärztekammer. Der Schlusshinweis: „Keine Bewerbung eingelangt.“
Dazu WGKK-Obfrau Mag. Ingrid Reischl: „Es haben sich zwar einige Einzelpersonen beworben, für die Vergabe war aber die Bewerbung als Gruppenpraxis Voraussetzung – und das braucht Zeit. Es ist nicht leicht, dass sich ein Team selbstständig in so kurzer Zeit zusammenfindet, das anschließend auch sehr gut zusammenarbeiten kann.“
Die Grundkonzeption ist für Reischl klar: „Die Primary-Health-Care-Zentren (…) sollen die erste Anlaufstelle für gesundheitliche Fragen und Beschwerden aller Art sein. Dabei versorgen sie die Patienten kontinuierlich – von Jung bis Alt sowohl bei akuten als auch bei chronischen Erkrankungen.“ Ärzte, Sozialarbeiter, Psycho- und Physiotherapeuten würden eine „umfassende Versorgung unter einem Dach gewährleisten“. Das würde auch den Beruf des Hausarztes attraktiver machen.
Grundgedanke sind zwei verschiedene, aber kombinierbare Ziele solcher Zentren: Eine Einrichtung zur allgemeinmedizinischen Versorgung 50 Stunden pro Woche, 52 Wochen im Jahr – unter direkter Einbindung nicht-ärztlicher Berufsgruppen. Hinzu kommt die Funktion solcher Zentren in Krankenhausnähe: Entlastung der Spitalsambulanzen.
In Enns in Oberösterreich sollen es beispielsweise neben vier Allgemeinmedizinern zwei Diplomkrankenschwestern, ein Psychologe, ein Physiotherapeut (ergänzt durch Teilzeitstellen für Diätologie, Ergotherapie, Logopädie, Geburtshilfe und Sozialarbeit) sein. UND: ein eigener „Zentrumsmanager“ (plus vier Ordinationsassistenten) – Personal- und Zeitmanagement, Dokumentation, Qualitätssicherung etc., etc.
Ein kritischer Punkt könnte jedenfalls erreicht sein, wenn man solche Zentren gänzlich neu im städtischen Bereich gründet. Das wäre das Beispiel beim Wiener SMZ Ost. Dr. Johannes Steinhart, Wiener Kammer-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte: „Die Schwierigkeit ist, dass wir dort drei Allgemeinmediziner benötigen, die eine neue und erweiterte Gruppenpraxis aufbauen.“ Das bereits gestartete Projekt in Wien-Mariahilf erhält 210.000 Euro Unterstützung pro Jahr, jenes beim SMZ Ost soll gar 270.000 Euro bekommen. Die Kassenverträge für das Projekt beim Donauspital wären vorhanden – durch Verlagerung „eingesparter“ Kassenstellen aus anderen Bezirken Wiens.
„PHC-Zentren wird es, so wie alle Gruppenpraxen, geben, nicht weil es die Politik so will, sondern wenn die Ärzte es selbst wollen. Wir haben immer gesagt, dass das am ehesten funktionieren wird, wenn sich das aus einer Kassenpraxis heraus entwickelt – wenn noch ein Kollege dazu kommt, später ein dritter. So, wie es auch in Wien-Mariahilf ist. Wir haben immer gesagt: ‚Die Gründung und das Wachstum von Gruppenpraxen braucht Zeit‘“, sagte der Kammeramtsdirektor der Wiener Ärztekammer, Dr. Thomas Holzgruber.
Ein Projekt wie die PHC-Zentren benötige längere Zeitfristen. In Wien habe man für die Veränderung der Radiologie-Landschaft, wo es in 1990er-Jahren noch 90 Kassenpraxen gegeben habe, für 2025 noch 16 Standorte vorgesehen. „Da haben wir dann eine Generation lang gebraucht“, sagte Holzgruber.
„Wir sind in ersten Gesprächen. Es drängt nicht so sehr. Wir wollen in Vorarlberg ein PHC-Zentrum einrichten und beide Zielrichtungen (erweiterte Allgemeinmedizin-Gruppenpraxis und Entlastung der Spitalsambulanz; Anm.) in Dornbirn kombinieren“, sagte Vorarlbergs Ärztekammerpräsident Dr. Michael Jonas. An sich hätte man eine solche Einrichtung schon vor fünf Jahren ins Auge gefasst, aber politisch sei das in Vorarlberg zunächst nicht durchsetzbar gewesen. „Das Bundesland ist dafür. Die Krankenkasse verhält sich relativ flexibel“, meinte Jonas. Doch an der Realität des sich bereits abzeichnenden Ärztemangels kommt man nicht vorbei. „Solange wir Allgemeinmedizin-Kassenstellen offen haben, wird es auch mit dem PHC-Zentrum schwierig sein.“ Freilich könnte eine solche Einrichtung auch eine Chance z.B. für Ärztinnen sein, die eben keine Vollzeit-Freiberuflichkeit anstreben. Doch die Zusammenarbeit mehrerer Allgemeinmediziner auf Teilzeitbasis in einem solchen Zentrum sei auch mit einem hohen Managementaufwand verbunden. Und für weite Teile Österreichs scheint der Wunsch der Politik nach PHC-Zentren überhaupt irreal. „Am Land sind solche Zentren undenkbar“, sagte Jonas.
Ganz ähnlicher Meinung ist NÖ-Ärztekammerpräsident Dr. Christoph Reisner: „In Niederösterreich wird erst verhandelt, wo man so etwas etablieren könnte. Hier können die Patienten nicht mit der U-Bahn zum Primary-Health-Care-Zentrum fahren. Die Menschen wohnen nicht ‚zentralisiert‘.“
„Grundsätzlich muss man sagen, dass die Kollegenschaft noch misstrauisch ist. Solche Zentren dürften keine Konkurrenz zu den niedergelassenen Ärzten sein. Man kann die Dinge nicht gegen die Interessen der Ärzte durchbringen. Im Gegenteil: Man braucht die Ärzte, die so etwas wollen“, sagte Dr. Thomas Fiedler, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in Oberösterreich. Das Projekt in Enns sei offenbar auf recht gutem Weg. Die Gemeinde habe das Grundstück bereitgestellt. Das Gebäude muss gebaut werden. Fiedler: „Bundesland und Gebietskrankenkassen leisten Unterstützung. Grundsätzlich haben wir bei den Gesprächen ein sehr partnerschaftliches Verhältnis zur Krankenkasse.“
Zuviel dürfe man sich auch nicht erwarten. Der Standesvertreter: „Ein PHC-Zentrum kann kein Spital substituieren. Und bei der demografischen Entwicklung der Bevölkerung brauchen wir weiterhin den Arzt im Ort, also eine flächendeckende Versorgung!“